Nach seinem bemerkenswerten Auftritt anlässlich der Kunstbiennale 2022 im Dogenpalast in Venedig präsentiert Anselm Kiefer erneut eine Einzelausstellung in Italien. Und wieder ist sie überwältigend
ShareIn Florenz begegnet man Anselm Kiefer schon beim flüchtigen Vorbeigehen am historischen Palazzo Strozzi, dem wohl reinsten Florentiner Stadtpalast der Frührenaissance. Denn die titelgebende Arbeit „Caduta dell’Angelo“ (Engelssturz) befindet sich im Innenhof. Wenn man vor der Hauptfassade steht, wird sie vom hohen Bogen des Eingangstors und den folgenden Arkaden so gerahmt, als handle es sich um ein Gemälde auf einem Hauptaltar, das man durch eine Chorschranke anschaut. Der sakrale Bildeindruck wird verstärkt durch die goldene Farbigkeit des Bildgrunds, die auch an einem regnerischen Morgen das Atrium lichtdurchflutet.
Hier, wie in anderen Gemälden, verwendet Anselm Kiefer reines Blattgold, das Wind und Wetter trotzt. Die riesige freistehende Leinwand reicht vom steinernen Boden im Innenhof bis zum ersten Obergeschoss und führt den Blick der Betrachtenden bis zum darüberliegenden offenen Dach. Schaut man wieder herunter, so scheint es fast, als würde der Engel direkt vom Himmel hinabfliegen. Es ist der Erzengel Michael, dessen erhobene linke Hand auf die hebräischen Schriftzeichen am rechten oberen Bildrand zeigen, die seinen Namen führen. In der rechten hält er sein Attribut, ein Schwert, das er gegen den rebellischen Engel Luzifer erhoben hatte, der nun zusammen mit anderen gefallenen Engeln in eine tiefe Schlucht gestürzt ist, die sich zwischen zwei riesigen tektonischen Platten öffnet.
Während der vollfigürlich dargestellte Erzengel gesichtslos bleibt, fallen in der dunklen Sockelzone eine Vielzahl von Köpfen kopfüber zu Boden. Nach der Vertreibung aus dem Paradies hat das irdene Dasein die gefallenen Engel menschlich gemacht, sie tragen lange Haare und Bärte, unter ihnen stapelt sich Kleidung, einzelne Wesen tragen einen Namen, wenn auch beinahe unlesbar. Anselm Kiefer hat mit dem Sturz des Teufels aus dem Himmel ein religionsübergreifendes Motiv gewählt, das in den Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams überliefert wird.
Mit seinem Gemälde intendiert er zudem eine epochenübergreifende Geste, denn er rekurriert auf historische Bildmotive – die Co-Kuratorin Ludovica Sebregondi verweist auf ein goldenes Tafelgemälde aus dem 14. Jahrhundert aus dem Louvre in Paris und auf Luca Giordanos Darstellung des Erzengel Michael (1689-1702) aus dem Museum in Cádiz – und transferiert sie ins Heute: Anders als sonst appliziert er in der Massenszene nicht anonyme, einfarbige Anzüge oder Tuniken, sondern lässt Bluejeans, bunte Trainingsanzüge und ein Sweatshirt mit dem Schriftzug der amerikanischen Trendmarke Hollister durchscheinen. Mit diesen Bildelementen berührt Anselm Kiefer die Betrachter, die mit den gefallenen Wesen auf Augenhöhe stehen: „Wir sind die gefallenen Engel“, sagt Ludovica Sebregondi.