Als Mike Kelley kam, hatten Pop und Minimal Art keine Chance mehr: Zwölf Jahre nach seinem frühen Tod würdigt eine große Retrospektive in Düsseldorf den wohl vielseitigsten Künstler seiner Generation
Von
19.03.2024
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 224
Hinter schrägen Kunstwerken vermutet man intuitiv einen mindestens ebenso schillernden Schöpfer. Doch als Person war Kelley das glatte Gegenteil. Wer die Chance hatte, ihn bei seiner Ausstellung 2007 in der Berliner Galerie Jablonka zu treffen, saß einem unscheinbaren Mann mittleren Alters mit grauen, kurz geschorenen Haaren gegenüber, der Brille, Jeanshemd und Arbeiterstiefel trug. Normaler geht’s nicht. Bemerkenswert war lediglich seine Stimme, dieser intensive und leicht näselnde Tonfall, mit dem er von seinem neuesten Projekt „Kandor“ erzählte, einem Zyklus, der auch heute noch zu den Highlights einer Kelley-Werkschau gehört. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Dioramen, 3-D-Bildern und Videos, die alle von der gleichnamigen Metropole aus den „Superman“-Comics erzählen: Kandor hatte das Unglück, vom Oberschurken Brainiac geschrumpft und in einer Flasche versiegelt worden zu sein. Superman nahm dieses Glasobjekt an sich, in der Hoffnung, der Stadt und ihren Bewohnern ihre normale Größe zurückgeben zu können.
In Kelleys Installation bewegt sich das Publikum durch einen abgedunkelten Raum zwischen farbig beleuchteten Glasflaschen, die unterschiedliche Versionen des Mini-Kandor enthalten. „Kandor ist in den Superman-Geschichten nie eindeutig beschrieben worden“, sagte Kelley damals in Berlin. „Jeder Fan hat sein eigenes Bild, und diese fehlende Kontinuität der Darstellung interessierte mich.“ Allen weitergehenden Deutungen, etwa dass die Ministädte als autarke und gefährdete Ökosysteme eine Anspielung auf die Erde und den Klimawandel darstellen könnten, widersprach der Künstler: „Menschen neigen dazu, Botschaften in die Kunst hineinzuprojizieren“, war sein Kommentar.
Es gibt in Kelleys Karriere ein Schlüsselmoment, das ihn in seinem Unwillen, eindeutig zu sein, entscheidend bestärkte: 1987 begann er mit „Half a Man“, seiner heute wohl berühmtesten Projektserie. Ein Teil dieser Serie umfasst Arbeiten, in denen er alte Häkelpuppen und Stofftiere verwendete, die er zuvor auf Flohmärkten und in Secondhandläden erworben hatte. Diese von ihren Vorbesitzern aufgegebenen und häufig etwas ramponiert wirkenden Teddybären, Flauschhäschen und Woll-Oktopusse kombinierte er in bildähnlichen Wandobjekten wie „More Love Hours than Can Ever Be Repaid and The Wages of Sin“ aus dem Jahr 1987 oder arrangierte sie ab 1990 in seiner „Arena“-Serie auf Stoffdecken zu Konstellationen, die an Familienaufstellungen erinnerten.
Die Kuscheltierarbeiten ließen mehrere Deutungsansätze zu, je nachdem ob man den Blick auf den Stellenwert von selbst gefertigten Geschenken in ärmeren Bevölkerungsschichten, auf die Rolle der Volkskunst im Museum oder auf Kelleys Verwendung des damals als „weiblich“ konnotierte Mediums Textil im machohaften Kunstbetrieb richtete. Es gab jedoch noch einen anderen Aspekt in den Werken, den der Künstler, im Rückblick gesehen, wohl unterschätzte: die starke emotionale Identifikation von Menschen mit antropomorphen Objekten. Dadurch wurden die vernachlässigten Puppen und Stofftiere von zahlreichen Betrachtenden und Kritikern mit Menschen gleichgesetzt und rasch als Symbole für Kindesmissbrauch interpretiert. In letzter Konsequenz vermutete man nun auch einen erlittenen Missbrauch in Kelleys eigener Kindheit. Diese vorschnelle, verengte Schlussfolgerung hat den Künstler nachhaltig verärgert.
Obwohl er ihr widersprach und immer wieder öffentlich beteuerte, nicht missbraucht worden zu sein, setzte sich die küchenpsychologische Deutung seiner Stofftierarbeiten fest. Kelley reagierte darauf mit Ironie, indem er seinen nächsten großen Werkzyklus „Educational Complex“ (1995) dem Repressed Memory Syndrom widmete, einem wissenschaftlich umstrittenen Krankheitsbild in der Psychoanalyse, das Erinnerungslücken auf verdrängte frühkindliche Traumata zurückführt. Der Künstler schuf ein Architekturmodell seines Elternhauses und jeder Schule, die er besucht hatte und ließ dabei alle Räume weg, an die er sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Obwohl er immer davon ausgegangen war, keine biografische Kunst machen zu wollen, ließ er seitdem häufiger Details aus seiner Lebensgeschichte als Irritationsauslöser in seine Werke einfließen.
Seine eigene Motivation für die Stofftierarbeiten legte Kelley offen: „Mich hat an den Puppen vor allem die Tatsache interessiert, dass sie von Erwachsenen gemacht wurden“, erklärte er. Die von liebenden Eltern in langen Abendstunden angefertigten Geschöpfe sind geschlechtslos und repräsentieren damit den Glauben an die Reinheit der Kindheit. Dieses asexuelle Ideal zerbricht dann spätestens mit der Pubertät – der Phase, in dem auch viele Puppen zurückgelassen werden. Kelleys Arbeiten fokussieren genau auf diesen familiären Spannungsmoment: „Körperlich sind Pubertierende keine Kinder mehr. Sie werden aber immer noch wie Kinder behandelt, haben zum Beispiel viel Freizeit und kaum Geld“, sagte der Künstler und bezeichnete die Pubertät als ein „schlechtes soziales Konstrukt unserer Gesellschaft“, das in der Popkultur übermäßig fetischisiert werde.