Als vor 100 Jahren der Surrealismus entstand, wurde Belgien eines seiner Zentren. In Brüssel können jetzt viele vergessene Positionen wiederentdeckt werden
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03.04.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 225
Belgien ist ein surrealistisches Land. Es kommt auf magische Weise über 600 Tage ohne Regierung aus, ist berüchtigt für seinen nie endenden Sprachenstreit und hat ein urinierendes Kind namens Manneken Pis als Landessymbol. Aber der offensichtliche Hang zu Anarchie und Regelbruch hat auch positive Aspekte. Beispielsweise konnte nur in Belgien jemand auf die Idee kommen, Tag und Nacht auf einer Leinwand zu vereinen. Dabei war René Magritte kein exzentrischer Selbstdarsteller wie die Pariser Surrealisten, sondern ein nüchterner Ingenieur des eigentlich Unmöglichen. Deshalb ließ er blauen Himmel über nächtlichen Landschaften leuchten und eine Lokomotive in einem Kamin hineinfahren.
An vorderster Stelle der Erfinder des Surrealismus war er aber nicht. André Breton veröffentlichte 1924 in Paris ein Manifest, in dem er die Rationalität anprangerte. Ihm schwebte eine Kunst vor, die jenseits des Rationalen die Menschheit befreien könne. Gleichzeitig veröffentlichten mehrere junge Brüsseler Schriftsteller wie Marcel Lecomte, Camille Goemans und vor allem Paul Nougé, ursprünglich Biochemiker, der 1919 die erste kommunistische Partei in Belgien mitbegründete, die Zeitschrift Correspondance. Die von Breton geforderte Spontaneität des Ausdrucks stellten sie infrage und wählten stattdessen Humor als subversive Waffe zur Umgestaltung der Welt.
Die belgische Gruppe wuchs stetig und entwickelte ihre Eigenheiten. Es gab zwar Phasen der Zusammenarbeit mit Breton, aber keine blinde Gefolgschaft. „Histoire de ne pas rire“, der Titel der labyrinthischen Schau im Brüsseler Museum Bozar, ist eine Anspielung an ein Buch von Nougé aus dem Jahr 1956. Obwohl dieser Magritte mit manch einer Idee aushalf, trat er nie aus dessen Schatten heraus.
Umso neugieriger schaut man auf sein Porträt aus Magrittes Hand, in dem er magisch verdoppelt im Smoking auftritt, und auf seine eigenen Schwarz-Weiß-Fotografien, die zwischen 1929 und 1930 in seiner Wohnung entstanden sind. Darauf sind seine Freunde und seine Frau Marthe mit ihrem kurzen schwarzen Pagenkopf zu sehen. Der Titel „Subversion des images“ lässt keine Zweifel daran, dass Nougé die Sehgewohnheiten erschüttern wollte. Traum und Wirklichkeit geraten aneinander. Zweckentfremdete Alltagsdinge wie ein Schwamm oder eine Schere genügen, um eine parallele, unheimliche Wirklichkeit entstehen zu lassen.