Vor 140 Jahren zerteilte die Kongokonferenz den afrikanischen Kontinent. Eine hochkarätige Ausstellung in der Völklinger Hütte widmet sich den Verbrechen der Kolonialgeschichte und ändert die Blickrichtung – mit den Mitteln der Kunst
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24.02.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 237
Die Ausstellung hat keinen festen Rundgang. Man kann sich intuitiv durch die riesige Gebläsehalle leiten lassen, vorbei an den massiven Rädern und Gerätschaften, die seit über sechzig Jahren stillstehen. Kurator Beil nennt es ein „Erwandern der Ausstellung“. Zum Navigieren hilft der kostenlose Audioguide, der nur in die Nähe eines Exponats gehalten werden muss und dann von selbst den Ton zu Videos abspielt, Zusammenhänge erklärt. Hinter jedem Ausstellungsbeitrag – historisch oder modern – stecken multiple kulturelle Bedeutungen und geschichtliche Referenzen. Die Menge an Eindrücken und Informationen kann einen überfordern, aber die unterschiedlichen Darstellungsformen in Sound, Film, Interaktivem und Text regen auch die Konzentration an. Die Dauerausstellung zur Geschichte der Völklinger Hütte fügt sich hervorragend in den Kontext von „The True Size of Africa“ und der lange Spaziergang durch die beeindruckende Hüttenanlage verdeutlicht deren wirtschaftliche Relevanz – und die historische Verantwortung, die damit einhergeht.
Ihm sei wichtig gewesen, sagt Beil, nicht nur Kunst zu präsentieren, sondern das Thema der Schau mit Leben zu füllen. Auch wenn das nicht unbedingt angenehm sei. Noch immer gibt es in der Stadt Völklingen eine Siedlung, deren Straßen nach Kolonialherren benannt sind. 2021 wurde ein Antrag zur Umbenennung mit einem Bürgerentscheid abgelehnt. Das Museum veranstaltet nun Diskussionsrunden, um sie doch noch durchzusetzen. Umdeutung ist der Begriff, der sich an vielen Stellen der Ausstellung aufdrängt. So generierte die Künstlerin Susana Pilar Delahante Matienzo aus Kuba mithilfe von künstlicher Intelligenz „historische“ Fotos, die zeigen, wie schwarze Frauen in Europa, Afrika und Amerika hätten leben können, wären sie nicht versklavt und unterdrückt worden. Auf einem Bild tragen sie prachtvolle viktorianische Kleider und große Hüte, auf einem anderen sitzen sie in ausgelassener Stimmung in einem Palmengarten. Die Fotos von Delahante Matienzos Werkkomplex „Achievement“ liegen lose auf alten Schreibtischen, können in die Hand genommen und aus der Nähe betrachtet werden.
Der Umdeutung verpflichtet sind auch die Selbstporträts von Zanele Muholi aus Südafrika und von dem Senegalesen Omar Victor Diop, beide international gefeierte Stars der Kunstszene. Diop inszeniert sich für die Werkserien „Diaspora“ von 2014 und „Liberty“ von 2016/2017 entweder als bedeutende Persönlichkeit der Geschichte oder als Figur des schwarzen Freiheitskampfes. Die nicht-binäre Person Muholi thematisiert in „Somnyama Ngonyama“ die Exotisierung von Frauen und Männern aus afrikanischen Ländern: Muholi fotografiert sich mit Alltagsgegenständen wie Zahnpasta, Wäscheklammern und Hockern. Wie Muholi sich diese Objekte aufsetzt, an den Körper hält, macht sie zu rituell anmutenden Mitteln des Selbstausdrucks. Und sie betonen andererseits das Verbindende zwischen den Menschen über Kontinente hinweg.
Ralf Beil ist sich bewusst, dass das Museumsteam zu großen Teilen aus weißen Menschen besteht. Daher hat er mit afrikanischen oder afrikanischstämmigen Künstlerinnen und Künstlern und dem Käte Hamburger Kolleg für kulturelle Praktiken der Reparation CURE der Universität des Saarlandes zusammengearbeitet, um die Ausstellung zu konzipieren. „Man muss nicht schwarz sein, um sich mit Afrika befassen zu können. Wir, als deutsche Institution, sollten nicht davor zurückschrecken, die eigenen Verbrechen aufzuarbeiten und aktiv den Austausch mit Afrikaner:innen zu suchen, denn es geht doch um Brückenschläge“, erklärt Beil. Schon am Eingang nimmt man deshalb den Titel „The True Size of Africa“ wörtlich. Eine digitale Weltkarte illustriert, dass der afrikanische Kontinent in Wirklichkeit um ein Vielfaches größer ist als auf den gängigen Karten dargestellt.
Wenn man die Oberfläche des Globus auf ein Blatt Papier überträgt, so werden die Bereiche nahe an Nord- und Südpol normalerweise gedehnt. Am Äquator, also in Afrika, Südamerika und Indonesien entsprechen die Proportionen der geografischen Realität, wohingegen die Länder, je weiter sie im Norden oder Süden liegen, stets größer wirken. In Wahrheit passen in den afrikanischen Kontinent mit seinen 30 Millionen Quadratmetern die USA, China, Indien, Japan, Mexiko und ganz Europa. Beil sagt, das sei auch einigen in seinem Museum neu gewesen. Und genau darum gehe es: Informationen aufbereiten, sie mithilfe von multimedialer Kunst zugänglich machen und damit ein Bewusstsein in der Gesellschaft schaffen.
Die Kolonialverbrechen, die Deutschland auf dem afrikanischen Kontinent begangen hat, sind irreparabel. Es ist an der Gegenwart, einen Umgang mit dieser Schuld zu finden. Beim Käte Hamburger Kolleg ist man der Auffassung, dass, sobald etwas nicht mit Geld wiedergutzumachen ist, kulturelle Reparationen ins Spiel kommen sollten. Durch Kunst können Begegnungen stattfinden, Dialoge entstehen. Und man kann der florierenden afrikanischen Kultur Räume zur Selbstdarstellung und Anerkennung geben.