In ihren Porträts fiktiver Menschen schafft die Malerin Lynette Yiadom-Boakye eine aus der Zeit gefallene Welt, die dennoch berührend persönlich auf die Fragen der Gegenwart antwortet
Von
11.10.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 189
Auf den ersten Blick muten ihre Gemälde an wie klassische Porträts. Die Figuren auf ihren Bildern sehen aus wie Freunde oder reale Menschen, doch sie sind Fiktion, wie die Charaktere in einem Roman, wobei die Künstlerin sie wie eine Autorin mit Leben erfüllt. Sie sind Hybride aus Fotografien, gesammelten Bildern, Skizzen, lebenden Modellen, freier Erfindung. In einem Gespräch zur Tate-Ausstellung, das sie in diesem März mit Thelma Golden, der legendären Direktorin und Chefkuratorin des Studio Museums in Harlem führte, erklärte die Künstlerin, die in klassischer Aktmalerei ausgebildet wurde, wie es dazu kam. Sie habe damit angefangen, Freunde zu porträtieren, und festgestellt, dass das Ergebnis auf der Leinwand die eigentliche Person nicht wirklich wiedergibt: „Mit der Zeit verlor ich zunehmend das Interesse an spezifischen Menschen, der Idee, dass dies ein Porträt sein sollte. Je mehr ich mich von dieser Idee entfernte, umso klarer wurde mir, dass es sich hier um ein Vehikel handelte, um über Malerei nachzudenken. Als ich damit aufhörte, Leute abzubilden, die ich kannte, aufhörte, eine gewisse Ähnlichkeit herstellen zu wollen, spürte ich eine ungeheure Freiheit: dass ein Körper alles Mögliche sein konnte, eine Person alles Mögliche sein und bedeuten konnte.“ Unendlich viele Möglichkeiten, wie sie 2021 im Gespräch mit dem New Yorker Autor und Kurator Antwaun Sargent äußerte, für schwarzes Leben, schwarze Erfahrungen: „Da gab es diese Ideen, wie ein schwarzer Körper zu sein hat, sich bewegen soll, was Schwarzsein bedeutet. Ich kann meine Arbeit von diesen Erwartungen abtrennen und mich auf eine andere Realität beziehen.“
Mit dieser Realität ist es wie mit Dickinsons Gedichten. Auf Anhieb erscheint sie einfach, fast etwas naiv: Männer in Strumpfhosen, mit Papageien und Kätzchen. Da ist dieser trockene Pinselstrich, der an den Übergang vom Impressionismus zur Moderne denken lässt, aber auch an die Porträts und Interieurs der eher als kommerziell und illustrativ verpönten figurativen Malerei, die in den 1960er-Jahren in vielen Wohnungen von Arbeitern und Angestellten hing: häusliche Idyllen, Liebespaare, Männer mit Gitarren, Harlekine und Pierretten, Kunstpostkarten, die hinter den Spiegel geklemmt werden. Nicht umsonst erscheint der schwarze junge Mann mit dem Federkragen wie ein High-End-Fashion-Model, aber auch wie ein Harlekin. Die Braun- und Schwarztöne, die besonders Yiadom-Boakyes frühere Gemälde bestimmen, wirken hingegen altmeisterlich.
An anderen Stellen sind ihre Bilder brutal und schlaglichtartig ausgeleuchtet, werden in Fragmenten verfremdet und reduziert, zu reiner, sehr analytischer Malerei wie bei dem Belgier Luc Tuymans. Virtuos kommunizieren ihre Bilder aus der Sicht einer heutigen schwarzen Malerin mit der von weißen Männern dominierten Kunst- und Malereigeschichte – mit Goya, Manet, dem britischen Postimpressionisten Walter Sickert, Duncan Grant und den Malerinnen und Malern der Bloomsbury Group.
An der Porträtmalerei von John Singer Sargent lernt sie, Rot richtig zu kombinieren, zum Leuchten zu bringen. Gleichzeitig übernimmt sie den flamboyanten roten Hausmantel und die sexuelle Ambiguität von Sargents Porträt „Dr. Pozzi at Home“ von 1881 für ihr Bild „Any Number of Preoccupations“ (2010), auf dem ein schwarzer Mann in einer frivolen, effeminierten Haltung in einem roten Bademantel auf einem Bett sitzt. Eine merkwürdig peinliche, zugleich berührende, zarte Situation, wie auf so vielen von Yiadom-Boakyes Arbeiten. „Die Unergründlichkeit dieser Gemälde ist wie die Unergründlichkeit von Intimität“, schreibt die Dichterin Elizabeth Alexander im Ausstellungskatalog. So konstruiert und fiktiv diese Bilder sind, so real sind sie zugleich. „Sie haben Seelen“, bemerkt die britische Schriftstellerin Zadie Smith treffend. Immer wieder ist von der fast erotischen, häufig homoerotischen Ausstrahlung von Lynette Yiadom-Boakyes Figuren gesprochen worden. Der afroamerikanische Künstler Glenn Ligon sagte, er könne sich in die Hälfte ihrer Bilder verlieben, der renommierte schwarze Kunstkritiker Hilton Als schrieb einen ganzen Essay darüber: „The Kiss“.
Tatsächlich ist es mit diesen „Porträts“ so, als würde man eine Person kennenlernen, ihren Geschmack, ihre Gedanken, ihre Gefühle, die sich wie in jeder intimen Begegnung vor allem physisch, auf einer nicht-sprachlichen Ebene ausdrücken – durch Blicke, Gesten, Berührungen. Eine der Möglichkeiten, die ihr diese fiktiven Porträts eröffnet haben, sagt Yiadom-Boakye, sei, „wirklich durch das Gemälde zu sprechen, ihm zu ermöglichen, ein Gemälde im körperlichsten Sinne zu sein, eine Sprache zu entwickeln, die sich nicht anfühlt, als hätte ich etwas aus dem Leben genommen und in die Malerei übersetzt, sondern der Farbe erlaubt zu sprechen.“
Die Farbe spricht bei ihr durch den Rhythmus, mit dem sie Linien, Gesten, Pinselstriche setzt, die spontan, heftig, affektgeladen sein können, aber immer ökonomisch, sparsam genutzt werden. „Als ich anfing, Jazz zu hören“, sagt sie, „prägte das meinen Umgang mit Rhythmus, Miles Davis, John Coltrane und Bill Evans, all diese Passagen, in denen sich der Sound völlig unerwartet verändert.“ Wer sich Yiadom-Boakyes Bildern nähert, wird sehen, aus wie wenigen Markierungen sich diese Körper konstituieren, wie das Bild, die Figur sich regelrecht in der Malerei auflösen.