Thea Sternheim

Anmut und Anarchie

Thea Sternheim war eine bedeutende Literatin und Sammlerin der Moderne von Géricault bis Picasso. Eine neue Biografie erinnert an ein Frauenleben, das so wechselvoll war wie seine Epoche

Von Dorothea Zwirner
20.12.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 193

Im selben Jahr kam „Korb mit Orangen“ von Matisse hinzu, das zeitgenössische Werk, das die Sternheims zu den ersten Sammlern des Malers in Deutschland machte. Beide Stillleben verbinden die radikale Aufsicht und Absage an eine räumliche Logik zugunsten einer ornamentalen Anordnung in der Fläche. In dem Attribut des „Primitiven“, das damals für die frühen Niederländer und Italiener gebräuchlich war, bündelt sich Theas Vorliebe für das Ursprüngliche, Unmittelbare und Urgewaltige, wie sie es bei all ihren großen Idolen bewunderte, angefangen von Grünewald, Bosch und Bruegel über den Zöllner Rousseau, van Gogh und Gauguin bis zu Matisse und Picasso.

Neben der Kunstbegeisterung verband Sternheim mit ihrem Mann aber auch die Vorliebe für die russischen und französischen Dichter, allen voran Flaubert und Tolstoi. Mit Carl feierte sie dessen Theatererfolge bei Max Reinhardt und Felix Holländer, sah Nijinski in Paris und Josephine Baker in Berlin tanzen, verkehrte in der Villa von Walther Rathenau genauso wie in der „Bellemaison“ mit der intellektuellen und wirtschaftlichen Elite. Treffende Porträts ihrer Freunde und Gäste hat die scharfe Beobachterin nicht nur in ihrem Tagebuch, sondern auch mit der Kamera festgehalten. Denn als talentierte Amateurfotografin schuf Sternheim einige Meisterwerke moderner Porträtfotografie. Für kurze Zeit erfüllte sich in ihrer Ehe der Traum von einem Leben im Zentrum des pulsierenden Kulturbetriebs: Sternheim wurde zur unermüdlichen Mitarbeiterin, Muse und Mäzenin ihres Gatten, später auch eigenständige Autorin und Übersetzerin.

Doch schon bald geriet „das überirdische junge Liebesglück“, für das sie ihre erste Ehe und zunächst sogar ihre beiden Töchter aufzugeben bereit war, in die Niederungen von Carls Untreue, Egozentrik und zerrütteter Nerven. Aus der Fallhöhe ihrer abgrundtiefen Enttäuschung drängte sich Thea nicht zum ersten Mal ein literarischer Vergleich auf: „Anna Karenina von Tolstoi. Frappante Ähnlichkeit mit meinem Schicksal. Ist’s an manchen Stellen nicht, als läse ich meine aufgezeichneten Gedanken?“

Thea Sternheim
Thea Sternheim als junge Frau um 1910 vor ihrem Haus „Bellemaison“ bei München. © Franz Greiner/courtesy Wallstein Verlag

Schon 1912 musste die „Bellemaison“, zwei Jahre später sogar die geliebte „Arlésienne“ verkauft werden, weil sich Thea für die Verluste aus den unseriösen Geschäften ihres Schwiegervaters heranziehen ließ. Die Sternheims zogen nun in die Nähe von Brüssel, das Thea seit ihrer dort verbrachten Internatszeit ganz besonders liebte. Bei den belgischen Symbolisten und frühen Niederländern fand sie eine Form der Spiritualität, die ihrem Hang zur Mystik entgegenkam. Gotik und Moderne waren die Epochen, die ihr Herz höherschlagen ließen und ihren Geist beflügelten. Doch bald mussten die Sternheims den Einmarsch der deutschen Truppen in das neutrale Belgien erleben und aus ihrer neuen Wahlheimat fliehen.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwachte Theas politisches Bewusstsein, und sie wurde zur überzeugten Pazifistin. Unter dem Eindruck der militärischen wie der ehelichen Kämpfe wählte sie 1916 den Vorsatz aus van Goghs Briefen als Motto für ihr 33. Lebensjahr: „Ich will nicht Gewalt antun und will nicht verlassen!“ Als fehlte noch ein Leitbild für ihren Vorsatz, erwarben die Sternheims in der Kunsthandlung Cassirer van Goghs „Briefträger Roulin“. „Ja, dies Bild müssen wir haben! Das ist nicht nur ein herrliches Kunstwerk. Das ist ein Stück Leben aus Vincents Leben, Andenken eines gütigen Mannes.“ Mit seiner frontalen Sitzhaltung, dem eindringlichen Blick und den riesigen Händen nimmt der Postbote nicht nur das ganze Bild, sondern auch den Betrachter vollständig ein für seine unbekannte Lebensgeschichte.

Thea Sternheims literarisches Naturell machte sie auch in der bildenden Kunst empfänglicher für die großen Erzählungen als für die formalen Abstraktionen. Wie es der Zufall wollte, lieferte der Galerist Alfred Flechtheim mit Gauguins Porträt eines betenden Mädchens das Gegenstück zu van Goghs blauem Postboten ins Haus, mit dem es die „rührende Einfalt und Güte“ und bildfüllende Komposition teilt. Gleichzeitig verkörperte Gauguins gelbes „Bretonisches Mädchen beim Beten“ geradezu die Protagonistin aus Thea Sternheims pazifistischer Erzählung „Anna“, die 1917 bezeichnenderweise nur unter dem Namen ihres berühmten Mannes erscheinen konnte.

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