Thea Sternheim war eine bedeutende Literatin und Sammlerin der Moderne von Géricault bis Picasso. Eine neue Biografie erinnert an ein Frauenleben, das so wechselvoll war wie seine Epoche
Von
20.12.2021
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 193
So instabil und streitbar wie die junge Weimarer Republik mit ihren häufigen Regierungswechseln verlief nach dem Krieg auch das Strindberg’sche Ehedrama der Sternheims mit ihren rastlosen Wohnortwechseln. Von Belgien ging es über die Schweizer Künstlerkolonie Uttwil am Bodensee, den Waldhof bei Dresden zurück nach Uttwil; immer wieder Abstecher nach Berlin, wo Thea zusammen mit ihren Kindern in das schillernde Großstadtleben der Roaring Twenties eintauchte. Unter all ihren Künstlerfreunden bewunderte sie niemanden so sehr wie Gottfried Benn, von dem sie sich staunend fragte: „Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen?“ Seit 1917 war sie dem Dichter und Arzt ihres Mannes eng verbunden, was diesen allerdings nicht daran hinderte, eine kurze Affäre mit ihrer Tochter Mopsa anzufangen.
Der Tanz auf dem Vulkan fand ein jähes Ende am 25. November 1927, als sich die Familie Sternheim zu Theas 44. Geburtstag im Hotel Adlon zum Mittagessen traf und ihr Gatte es noch nicht einmal für nötig befand, seiner Frau zu gratulieren. Nach zwanzig Ehejahren reichte Thea Sternheim die Scheidung ein und zog nach Berlin. Während sie Halt und Trost in katholischen Kreisen suchte, verloren sich die Sternheim-Kinder zunehmend in ihrer Vergnügungs- und Drogensucht. Nicht nur deren Libertinage und Ziellosigkeit verfolgte Thea Sternheim mit wachsender Sorge, sondern auch den erstarkenden Nationalsozialismus und die zunehmenden Übergriffe auf ihre jüdischen Freunde. Bereits 1924 sah sie die bedrohliche Entwicklung: „Es spitzt sich die politische Situation unbedingt zum Faszismus zu. Für eine Mark werden öffentlich Hitlerbroschüren feilgeboten, in denen der verrückt gewordene Anstreicher zum Nationalhelden proklamiert wird. Reaktionäre Zeitungen an jeder Straßenecke. Es riecht geradezu nach Nibelungenlied und Teutschtum.“
Sechs Jahre später empfand Thea Sternheim nur noch eine „unbeschreibliche ansteigende Düsterkeit. Europa – vorzüglich Deutschland in der Nachfolge Italiens und Russlands eine Gefängniszelle par excellence. Der Abbau von allem, was ich köstlich und sinnvoll fand, hat mit Vehemenz eingesetzt.“ Auch ihr Vermögen hatte durch Inflation, Scheidung und Weltwirtschaftskrise erhebliche Einbußen erlitten, sodass ein bedeutendes Van-Gogh-Bild nach dem anderen verkauft werden musste, angefangen von dem „Postboten Roulin“ bis zum „Liebespaar im Dichtergarten“, das 1929 über Flechtheim für 100 000 Mark an die Berliner Nationalgalerie veräußert wurde. In ihrer Not akzeptierte Thea Sternheim eine Anzahlung von 20 000 Mark, da sie nicht ahnen konnte, dass die Zahlungen 1933 eingestellt würden, das Bild 1937 als „entartet“ beschlagnahmt und 1938 von Hermann Göring zum Verkauf annektiert wurde. Es ist bis heute verschollen.
Immer klarer wurde Sternheim, dass sie in Deutschland nicht mehr weiterleben wollte. Auch ohne direkt verfolgt zu sein, entschloss sie sich zehn Monate vor Hitlers Machtergreifung, nach Paris zu emigrieren, wo sie dreißig Jahre lang bleiben sollte. Hier notierte sie am 30. Januar 1933: „Die Abendzeitungen: Hitler Reichskanzler. Diese geistige Erniedrigung fehlt noch zu allen voraufgegangenen. Sie fehlte noch! Ich gehe heim. Erbreche.“
Dank ihrer Zweisprachigkeit und der Freundschaft mit André Gide fand sie als eine der wenigen deutschen Exilanten schnell Anschluss an die Pariser Künstler- und Intellektuellenkreise. In dem überaus einflussreichen und umstrittenen Kultautor, für den sie bereits ein Theaterstück übersetzt hatte, erkannte Thea Sternheim von Anfang an den Moralisten und Gottsucher, der wie sie für eine freigeistige Lebenshaltung fernab von überlieferten Moralvorstellungen stand. Unter den Emigranten aus der Heimat zählten Joseph Roth, Max Ernst, Heinrich Mann und die Fotografin Frieda Riess zu ihren engsten Freunden.
Mit wachsendem Schrecken verfolgte Sternheim den Siegeszug des Faschismus in Italien, Spanien und Deutschland. Bereits 1936 ahnte sie den Hitler-Stalin-Pakt, doch trotz ihrer Hellsichtigkeit vermochte auch sie sich nicht vor dem Krieg zu schützen und weigerte sich, mit ihrem Sohn Klaus nach Mexiko zu fliehen. Als die deutschen Truppen im Juni 1940 in Frankreich einmarschierten, wurde Thea Sternheim als feindliche Ausländerin im Lager Gurs interniert. Selbst dort führte sie ihr Tagebuch auf einem Notizblock weiter, um die unmenschlichen Zustände wenigstens in Worte zu bannen. „Die ganze Nacht hat’s weitergeregnet. Der Schlamm wird Tümpel u. Moor, die hindurchwatenden Gestalten sorgenvoller und grauer. Die Egalité der Trauer, die Fraternité der Mühsal, die Liberté im Drahtverhau. Ich habe mir offenbar die Blase erkältet, bin kaum fähig, Wasser zu halten.“
Nach zwei Monaten Lagerhaft kehrte sie in die nun deutsch besetzte Hauptstadt zurück, wo sie bald schon Zeugin der einsetzenden Judenverfolgung wurde. Überall herrschte Mangel, sodass sie Schmuck und Bilder verkaufen musste. Schweren Herzens trennte sie sich von ihrem geliebten Matisse-Stillleben. Umso größer war die Überraschung und Freude, als sie erfuhr, dass niemand geringerer als Pablo Picasso das Bild erworben hatte und er sie einlud, „ihr Stillleben“ in seinem Atelier zu betrachten. Bei aller Not und Bedrängnis war Sternheim dankbar für die Freundschaftlichkeit, die ihr in Frankreich noch immer entgegengebracht wurde: „Das sind kostbare Erfahrungen, in den Perioden des Terrors erworben.“ Aber auch ihre Familie blieb nicht verschont. 1944 wurde Mopsa wegen ihrer Unterstützung der Résistance ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Schwer gezeichnet überlebte sie Folter und Lagerhaft, während ihr Bruder Klaus in Mexiko nach jahrelangem Drogenkonsum an den Folgen einer Lungenentzündung zugrunde ging. Der Tod des geliebten Sohns in der Ferne erschütterte Sternheim in ihren Grundfesten.
Nach dem Krieg weigerte sich Sternheim, nach Deutschland zurückzukehren, sodass sie bis zu ihrem Lebensende staatenlos blieb. „Was mich betrifft, so hat dieser zweite Weltkrieg meinen Lebenswillen vollkommen verlöscht, die furchtbare Ideologie des Nationalsozialismus das letzte Zugehörigkeitsgefühl zum Deutschtum abgedrosselt. Und wenn ich an dieser Loslösung zugrunde gehen soll – ich mache nicht mit! Ich träume vom Pax vobiscum unseres Herrn als vom Passwort der Seligkeit“, schrieb sie im Januar 1945. Der wahre Glaube, um den sie zeitlebens genauso rang wie um die richtigen Worte, war wohl das tiefste und geheimnisvollste Fundament ihres Lebens. Derweil war ihre wirtschaftliche Grundlage in den ersten Nachkriegsjahren so desolat und prekär, dass sie 1949 schließlich auch noch ihren Picasso, „La soupe“ aus der blauen Periode, verkaufen musste. Das Bild einer tief gebeugten Frau, die ihrem heraneilenden Kind einen dampfenden Teller Suppe reicht – Sinnbild von Armut und Entbehrung – wurde so zu ihrer buchstäblichen Nahrungsgrundlage.
In ihrer tiefen Skepsis jedem Staat und jedem Nationalismus gegenüber blieb Europa Sternheims geistige Heimat. Sie bewunderte die französische genauso wie die russische Literatur, die italienische wie die flämische Gotik. Europa war für sie „ein uraltes von Tränen und Träumen durchsetztes Kulturland“. Angesichts der neuen Vormachtstellung der USA fragte sie sich: „Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die europäischen Völker zusammenschließen?“ Noch vordringlicher war ihr aber: „Wie mit diesen Erfahrungen weiterleben, ohne sich vom Ekel vergiften zu lassen?“ Nicht Siegerjustiz und Kollektivschuld, sondern Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Vergebung waren ihre Schlüsselbegriffe für einen Neuanfang. Aufmerksam verfolgte sie die Kriegsverbrecherprozesse, später den Eichmann- und den Auschwitz-Prozess. Behutsam nahm sie den Kontakt zu Gottfried Benn wieder auf, den sie wegen seiner vorübergehenden Hinwendung zum Nationalsozialismus 1933 radikal abgebrochen hatte. Umso beglückender vollzog sich nach Jahren der Unterbrechung die Wiederannäherung an den alten Freund, der ihr 1952 zur Publikation ihres ersten und einzigen Romans „Sackgassen“ im Limes Verlag verhalf.
Im programmatischen Titel offenbart sich ein von Fehlentscheidungen, Enttäuschungen und Schicksalsschlägen grundiertes Lebensgefühl, das aber seine Würde und Demut im Plural der neuen Anläufe und gescheiterten Bemühungen wahrt. Das Buch, an dem Sternheim über dreißig Jahre gearbeitet hatte, wurde ein Achtungs-, aber kein Publikumserfolg. Die „unwiderstehliche Sehnsucht nach Äußerung“ und die „Lust am Schöpferischen“, die sie seit ihrer Jugend zum ständigen Schreiben, Redigieren und Übersetzen antrieben, dienten jedoch nicht nur der Selbstvergewisserung, sondern halfen Sternheim auch dabei, sich Katastrophen in ihrem Leben entgegenzustellen. So musste sie im Alter von 70 Jahren den Verlust ihres zweiten Kindes miterleben, als Mopsa, gezeichnet von KZ-Haft und Drogensucht, 1954 an Krebs starb.
Wer ihr blieb, war die Tochter Agnes aus erster Ehe, in deren Nähe sie die letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod 1971 in Basel verbrachte. Näher stand ihr jedoch der belgische Künstler Herman-Lucien de Cunsel, der ihr seit den Zwanzigerjahren als Freund und Ersatzsohn verbunden blieb. Neben Cunsel umgab sich Sternheim im Alter mit einer ganzen Reihe jüngerer homosexueller Männer aus dem Umkreis von André Gide. Sie verehrten sie für ihren lebendigen Schönheitssinn und ihre freigeistige Vorurteilslosigkeit, ihre heroische Standhaftigkeit und ausgesuchte Höflichkeit, ihre außergewöhnliche Lebenskraft und bis zuletzt fiebrige Neugier. Noch in ihren letzten Jahren widmete sie sich mit Vitalität und Disziplin dem Nachlass von Carl Sternheim, den sie wohlgeordnet wie ihre Tagebücher dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überließ, aber auch Wiedergutmachungsprozessen, die ihr zusammen mit den Sternheim-Tantiemen ein bescheidenes Auskommen sicherten.
Und Thea Sternheim schrieb ihre Lebenserinnerungen, die erst posthum erschienen. Es ist die Autobiografie eines weiblichen Aufbruchs, der sich zwischen „Anarchie und Frommsein“, wie sie es selbst charakterisierte, sowie auf der Suche nach unbedingter Wahrhaftigkeit in Liebe, Kunst und Glauben vollzog. Im Drama ihres Lebens spiegelte sich das Drama ihrer Epoche.
Dorothea Zwirner
„Thea Sternheim – Chronistin der Moderne“
Wallstein Verlag, 2021, 413 S., 28 Euro