Die Kunst des Informel war die erste Avantgarde der Bundesrepublik, ihre Maler stürzten sich in ein wildes Spiel der Farben und Formen. Auf dem Markt wie in den Museen sind sie aus dem Fokus geraten. Es ist Zeit, dass sich das ändert
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12.08.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 199
Wie bei Jackson Pollock liegt auch bei Karl Otto Götz die Leinwand auf dem Boden. Breitbeinig steht der deutsche Maler auf einem Foto von 1959 über dem Bild. Er geht etwas in die Knie, um genug Kraft zu haben für das schwungvolle, energiegeladene Verwischen der Farbpartien mit dem Rakel, den man sich als einen handlichen Scheibenwischer vorstellen muss. Diese Schlieren, die, wie von Winden aus allen Himmelsrichtungen getrieben, hier aufeinanderprallen, sich gegeneinanderdrücken, schieben, sich türmen und verwirbeln, sind ewige, nicht greifbare Metamorphosen. Räume entstehen dabei, die wenig mit Dreidimensionalität zu tun haben. Es sind geistige Räume irgendwo zwischen Explosion und Kontemplation, zwischen Konzentration und Spontaneität. Götz’ Bilder haben alles, wofür das Informel steht. Sie sind formlos, kompositionslos – und temporeich, was die Entstehung betrifft. Am Ende des Malprozesses stieg der Maler, Pinsel und Rakel noch in der Hand, zur Kontrolle auf einen Stuhl. Es heißt, ein Drittel hielt seinem Anspruch nicht stand.
In den 1950ern begannen Maler wie Götz, Gerhard Hoehme oder Bernard Schultze, in eine neue Dimension der abstrakten Malerei vorzustoßen. Sie grenzten sich ab von den kubistisch angehauchten Vogel-Fisch-Augenpaar-Abstraktionen Ernst Wilhelm Nays oder den amorphen Flecken Willi Baumeisters, deren Kunst in der inneren Emigration während der Nazizeit gereift war und mit ihren Wurzeln zurück in die Zwanzigerjahre reichte. In den Bildern der jüngeren Generation gab es nun gar keine abstrahierten Formen oder geometrische Rhythmen mehr. Nichts war greifbar für den Verstand, es war erfahrbar nur durch emotionales Erleben. Die neue Kunst bestand aus Farbe, malerischer Geste und Struktur, herausgebrochen aus den seelischen Tiefen der Künstler.
So richtig gefeiert und bejubelt hat Deutschland die Informellen der Fünfziger und Sechziger nie. Die erste Avantgarde der jungen Bundesrepublik bewegt sich bis heute in der zweiten Reihe – auf dem Kunstmarkt, in den Museen und im allgemeinen Geschmack. Zu viel Existenzialismus, zu wenig Pop? Zu viel Philosophie statt klarer Botschaften? Wer genau hinschaut, erfährt in diesen Bildern jedoch viel Kraft und farbliche Delikatesse, Poesie und spirituellen Tiefgang.
Eine gewisse Ambivalenz begleitete das Informel von Anfang an. In Deutschland schwelte ein heftiger Streit zwischen den Anhängern der figurativen Malerei und denen der gegenstandslosen Kunst, 1950 angeheizt vom ersten der „Darmstädter Gespräche“, das dem „Menschenbild in unserer Zeit“ gewidmet war. Der konservative (und NS-belastete) Kunsthistoriker Hans Sedlmayr erblickte in der Abstraktion den Verlust aller humanistischen Werte, während Willi Baumeister und andere gegen die Figuration polemisierten. Nur ein kleiner Kreis von Kunstinteressierten sah die wolkigen Gebilde, die Texturen und die vulkanischen Farberuptionen der Informellen als Avantgarde. Und nur wenige verstanden etwas von dem Aufbruch, der in dieser künstlerischen Haltung lag. Diese Art der Malerei irritierte im Nachkriegsdeutschland mehr, als dass sie befreite. Dabei stand gerade das Schlagwort von der Befreiung, das die jungen Künstler einte, ganz weit oben. Theodor W. Adornos These, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben, trieb auch die Malergeneration um, der der Krieg und auch Schuldgefühle wegen der deutschen Verbrechen noch bleischwer auf den Schultern lastete. Götz fasste die malerische Absage an jegliche ideologische Vereinnahmung so zusammen: „Es geht um die Auflösung des klassischen Formprinzips. Keine fest umrissenen Formen malen, sondern die jeweilige Malmaterie so bearbeiten, dass es nur noch Passagen, Strukturen, Texturen, Farbflüsse oder Verflechtungen von Mal- und Zeichenspuren gibt.“
Alle Avantgarden brauchen eine Geburtsstunde. Für die deutschen Informellen fand sie im Dezember 1952 in Frankfurt am Main statt. Die Zimmergalerie Franck lud zur Ausstellung „Neuexpressionisten“ ein. Der Hausherr war von Beruf Versicherungskaufmann, aber seine wahre Passion war die moderne Kunst. Er wollte zeigen „was im In- und Ausland vor sich geht, auch wenn es nur ein Durchgang zu neuerlichem Wandel ist“. Die Galerie war in Wahrheit Francks Wohnung. Hinter dem Schreibtisch hing ein Gemälde von Götz, über dem Sofa teilten sich ein kosmisch anmutendes Bild von Bernard Schultze und eine gestische Arbeit von Otto Greis die Wand. Der vierte Künstler war Heinz Kreutz, der eine lyrische Farbmalerei vertrat. Noch am Abend der Vernissage spricht jeder von der „Quadriga“. Die Maler selbst verstanden sich nie als Künstlergruppe, aber der Name machte sich gut. So privat die Zimmergalerie wirkt, die Quadriga-Schau öffnete Türen für Ausstellungen im In- und Ausland. „1952 war unser Kometenjahr“, schrieb Schultze später im Rückblick.
„Ein rasanter Aufbruch in die Museen und zu den stark auf den Expressionismus konzentrierten Sammlern des sich anbahnenden Wirtschaftswunderlandes folgte leider doch nicht“, sagt Christoph Zuschlag, Kunstgeschichtsprofessor und Leiter der Forschungsstelle Informelle Kunst an der Universität Bonn. Sie wurde 2019 gegründet, um endlich das wissenschaftliche Vakuum in Bezug auf diese immer noch mit Missverständnissen beladene Kunst zu füllen. „Das Informel hatte lange ein Imageproblem“, erklärt Zuschlag. Etiketten wie Subjektivismus, Ästhetizismus, Beliebigkeit, mangelnde gesellschaftliche Relevanz klingen bis in unsere Tage nach. „Vielleicht braucht man Abstand, aber es war die zentrale Innovation in der Kunst der 1950er-Jahre, mit der erstmals ein offener Bildbegriff formuliert wurde.“ War das Nachkriegsdeutschland unter Adenauer zu konservativ, zu restaurativ für eine Kunst, die ihre geistigen Bezüge auch zum Existenzialismus sah? Andererseits wurde die Abstraktion vor allem von den Amerikanern als künstlerische Sprache der Freiheit im Gegensatz zum kommunistisch eingefärbten Realismus Osteuropas an die Front des Kalten Krieges geschickt.
Zwischen der Quadriga-Ausstellung und der ersten Schau informeller Kunst in einem deutschen Museum vergingen jedenfalls fünf Jahre. Die Wiesbadener Ausstellung „Couleur vivante – Lebendige Farbe“ von 1957 stellte französische und deutsche Künstler gegenüber. Frankreichs Neugier auf informelle Tendenzen aus dem Nachbarland schien da bereits um einiges größer gewesen zu sein, denn schon 1956 präsentierte eine Pariser Ausstellung 37 deutsche Abstrakte aus Deutschland, darunter auch die Quadriga-Künstler.