Die Kunst des Informel war die erste Avantgarde der Bundesrepublik, ihre Maler stürzten sich in ein wildes Spiel der Farben und Formen. Auf dem Markt wie in den Museen sind sie aus dem Fokus geraten. Es ist Zeit, dass sich das ändert
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12.08.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 199
Wer die Rezeptionsgeschichte des Informel verfolgt, stößt immer wieder auf Widersprüche. Durch eine Handvoll talentierter Künstler war Deutschland ein Zentrum des Informel, aber nur wenige Galerien in Deutschland glaubten an das Zukunftsversprechen der jungen Strömung. Selbst die Documenta II, auf der die riesigen Leinwände der Abstrakten Expressionisten aus den USA das deutsche Informel ins Dachgeschoss des Fridericianums verbannten, gab dem Markt nicht die nötigen Impulse. Die Kasseler Schau von 1959 zeigte aber eine andere Wirkung: Es folgten vermehrt Museumsausstellungen, Künstler wie Götz, Emil Schumacher und Fred Thieler bekamen Professuren an den Akademien. Aus heutiger Sicht stellt sich die zweite Documenta als Höhepunkt und zugleich leiser Abgesang dieser Strömung dar. Denn bald gaben Zero wie die Pop-Art den Ton an. Der abstrakte Maler Hans Platschek forderte schon 1959 eine „Neue Figuration“. Das Informel war damit nicht abgeschafft, die Abstraktion nicht ins Aus gedrängt. Walter Stöhrer etwa, der Anfang der Sechziger die Szene betrat, bediente sich bis zu seinem Tod im Jahr 2000 der Power der malerischen Geste und zeigte zugleich Tendenzen zum Figürlichen.
Der für die späten Vierziger und die gesamten Fünfziger verwendete Begriff der „Nachkriegskunst“ hat den Blick auf das Informel allzu oft in eine falsche Richtung gelenkt. Kein Zweifel, das Kriegstrauma spielte mit hinein in den Schaffensprozess. So lässt sich in jedem Bild Emil Schumachers der Kampf zwischen innerer Erschütterung und Zuversicht ablesen; mit erdigen, schrundigen Farbaufträgen assoziierte er Verletzungen und zerberstende Oberflächen. Aber eine Reaktion auf den Krieg war das Informel nicht. Wer neu beginnen will, wird sich nicht bis zur Erschöpfung am Vergangenen abarbeiten. Antrieb und Botschaft waren vielmehr der Verlust des Glaubens an eine systemische Ordnung, wie sie noch der Konstruktivismus eines Piet Mondrian und Theo van Doesburg vor dem Krieg formulierte. Die junge Künstlergeneration der Fünfziger suchte neue Freiheiten in einer entgrenzten, dynamischen Malerei. Der Funke sprang auch zu einigen Bildhauern über, etwa Norbert Kricke. Wie andere Liniencluster zeichnen, so konzentrierte der Düsseldorfer filigrane Stahlstäbe, durchbrach damit die Grenzen des Raumes und entfloh dem traditionellen Korpus der Skulptur.
Ein deutsches Phänomen war diese Kunst nicht. Der Wind der Avantgarde wehte aus Frankreich und Amerika herüber. Paris kannte auch während der deutschen Besatzung keinen künstlerischen Stillstand: Der Emigrant Hans Hartung setzte dunkle Linienbündel vor helle Hintergründe. Pierre Soulages tuschte in raschen Bewegungen schwarze Balken kreuz und quer über die Bildfläche, ähnlich wie in der asiatischen Kalligrafie verkörpert der Pinselstrich den ästhetischer Ausdruck des Geistes. Unter den Pariser Malern erschütterte der deutsche Wahlfranzose Wols, eigentlich Alfred Otto Wolfgang Schulze, die Malerkollegen mit zittrigen, bizarren Linien, die in den düsteren Farbflächen zu tragischen Psychogrammen verschmelzen.
Wie sehr die Hinwendung zur informellen Malerei Mitte der Vierzigerjahre eine unausweichliche Weiterentwicklung der Moderne wurde, führte in den USA eine ganze Reihe von Malerinnen und Malern vor. Schon 1946 tänzelte Pollock an der Leinwand entlang, um mit ganzem Körpereinsatz Farbspritzer direkt aus der Dose auf seine nestartigen Bilder zu verteilen. „Action-Painting“ war das neue Schlagwort. Große Gesten setzten auch Robert Motherwell und Clyfford Still. Amerika feierte die neue Kunst als „New York School“ und als erste eigenständige US-amerikanische Kunst, die unabhängig von Europa entstand. Die Vereinigten Staaten stiegen nach 1945 zur Weltmacht auf, und die neue Kunst diente im zerstörten Europa als kulturelle Softpower im Kampf um Sympathien für den „freien Westen“.
Die Choreografie für diese Bilder lieferten diesseits und jenseits des Atlantiks der Zufall, das Unbewusste, die Intuition. Die Spannung der Werke hatte ihren Ursprung im Expressionismus, in dessen gestischer Dynamik und der Übersteigerung der Farbe als primäre Ausdrucksmittel. Der wichtigste Bezugspunkt aber war der Surrealismus, der erstmals die verborgenen Kräfte des Seins in die Malerei eingebracht hatte. Das ist bei Pollock oder Götz ebenso unverkennbar wie beim Kölner Hann Trier, der mit beiden Händen seine Gitterstrukturen und Farbgründe verteilte. Warum der Automatismus der Surrealisten für Bernard Schultze eine Brücke zu seinen eruptiven Farbverschmelzungen bildete, erklärte er schon 1957: „Der Wille wird bis auf ein Minimum ausgeschaltet, der Instinkt kann sich um so freier entfalten. Warum, fragen Sie. Um zu neuen Entdeckungen zu gelangen, um in das Risiko des Unbekannten zu geraten.“
Trotz dieser vielen Schnittstellen und Gemeinsamkeiten war das Durcheinander der Begriffe um 1950 groß. Die Bezeichnung Informel (französisch für „formlos“), die sich in Europa eingebürgert hat, brachte erstmals der Pariser Kunstkritiker Michel Tapié ins Spiel. Er verwies damit auch auf die uferlose künstlerische Diversität dieser Malerei, die sich in Dutzenden von Strömungen und Hunderten von Handschriften zersplitterte. Die französische Spielart wurde oft auch als Tachismus bezeichnet, zu Deutsch etwa „Fleckenmalerei“. Die Amerikaner fassen ihre Künstlerinnen und Künstler von Pollock bis Joan Mitchell unter dem Titel des Abstrakten Expressionismus zusammen.