Interview mit Kiki Smith

Dickicht der Großstadt

Für ein neues Terminal der Grand Central Station tief unter den New Yorker Wolkenkratzern hat Kiki Smith erstmals Mosaike gestaltet. Ein Gespräch über Rehe und Truthähne, Pendlerströme und ihre Liebe zum Stein

Von Lisa Zeitz
10.03.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

Immer wieder spielen Motive aus der Natur in Ihren Werken eine Rolle. Es gibt Skulpturen, in denen sich Menschen in Tiere verwandeln oder umgekehrt.

Ich weiß, dass einiges von den Werken meines Vaters kommt, der Skulpturen aus Oktaedern und Tetraedern machte und sie auf verschiedene Weisen kombinierte, sodass wieder etwas Neues entstand, ein bisschen wie Origami. Man faltet und dreht und auf einmal verwandelt sich das eine in etwas anderes. Bilder haben auch verschiedene Leben. Vor zwanzig Jahren habe ich lauter Werke geschaffen, die sich mit Rotkäppchen und dem Wolf beschäftigen. Zu deren vielen Facetten gehört auch die Natur.

Fast wie eine Zwischenform zwischen Mensch und Tier erscheint mir auch Ihre Skulptur der vollkommen behaarten Maria Magdalena. Wie kamen Sie auf dieses Motiv?

Tilman Riemenschneider! Als ich 1982 zum ersten Mal nach Berlin kam, war ich bei dem Künstler Raimund Kummer zu Gast und ging dauernd in die Museen, auch nach Dahlem. So etwas hatte ich noch nie gesehen: Maria Magdalena, Darstellungen „Wilder Männer“ und „Wilder Frauen“, Herkules mit Löwenfell und Keule. Als ich sie Jahre später auf der Museumsinsel sah, habe ich hysterisch gelacht und geweint vor Wiedersehensfreude. Mittelalterliche Skulpturen stecken so voller Gefühl, das beeindruckt mich schwer. Auch das Bayerische Nationalmuseum in München ist unglaublich.

Sie kennen in München bestimmt auch die Pinakotheken?

Natürlich. Aber kennen Sie dort das Museum Reich der Kristalle? Es befindet sich in einer Art Bürogebäude. Nicht viele Leute kennen es, aber es ist wirklich inspirierend. Es stimmt schon, Tiere sind toll. Aber Kristalle erst! Das ist eine echte Konkurrenz. Wenn meine Mutter früher auf Reisen war und mich fragte, was sie mir mitbringen kann, sagte ich immer: „Bring mir einen Stein mit!“ Wenn ich verreise, komme ich bis heute immer mit dem Koffer voller Steine zurück.

Gibt es sonst noch etwas, was Sie sammeln?

Nicht mehr – früher habe ich Währungen gesammelt, besonders umfunktionierte Münzen, die durchbohrt zum Beispiel Teil einer Tracht waren. Das gehört zur kunsthandwerklichen Geschichte der Frauen. Als mobiles Vermögen trug man Münzen als Schmuck am Hals oder als Teil der Kleidung. Mich fasziniert auch, wie zum Beispiel Münzen mit dem Bildnis von Maria Theresia für Jahrhunderte in Nordafrika und Europa in Umlauf waren. Ich hatte einen Münzhändler, zu dem ich immer ging. Sein historisches Wissen war unglaublich. Ich dagegen habe das Lesen erst mit ungefähr vierzig Jahren gelernt. (lacht) Ich habe das Leben durch das Sehen studiert. Was wir Alltagsgegenstände nennen, alle diese Sachen haben eine so reiche, lebendige Geschichte.

Mosaik Kiki Smith
Von der Station Grand Central Madison fahren Züge jetzt direkt nach Long Island. Personenverkehr mit Poesie: Das Mosaik von Kiki Smith zeigt fließendes Meerwasser und Steine am Strand. © Anthony Verde/Kiki Smith

Wenn Sie eine Zeitreise machen könnten, würden Sie gerne New York vor hundert Jahren sehen?

Nein. Ich würde lieber in meine eigene Jugend zurückreisen und mein Verhalten und mein schlecht organisiertes Leben korrigieren … Nein, das stimmt nicht. Ich lebe sehr gerne genau jetzt, und ich weiß, was das für ein Privileg in unserer komplett verrückten Welt ist.

Sind Sie Optimistin?

Ja! Auch wenn mein Mann sagt, nur Narren seien Optimisten. Ich bin glücklich, weil es einfacher ist, glücklich zu sein. Als Künstlerin bin ich selbstbestimmt. Ich entscheide mich, Kunst zu machen, und so kann ich mein ganzes Leben und meine eigene Welt erfinden. Vieles liegt außerhalb unserer Kontrolle, aber einfach zur Arbeit erscheinen, das kann ich. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich dafür entschieden habe.

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