Interview mit Jorinde Voigt

Date in Zimmer 505

Im Château Royal in Berlin-Mitte hat Jorinde Voigt das Zimmer 505 nach dem Vorbild des legendären New Yorker Chelsea Hotel gestaltet. Dort sprachen wir mit der Künstlerin über ihre Kindheit, Mathematik und die Philosophin Erin Manning

Von Sebastian C. Strenger
03.05.2023
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 7/23

Jorinde Voigt, geboren 1977, Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, untersucht in ihren Werken Wirklichkeit und Wahrnehmung. Mit feinen Linien und Notationen überträgt die Berliner Künstlerin kognitive Prozesse in ihr Darstellungssystem. Dabei experimentiert sie – immer ausgehend von der Zeichnung – auch mit anderen Techniken und Materialien. Entstanden ist so ein Œuvre, das von Arbeiten mit verschiedenen Zeichenmitteln über vergoldete Druckgrafiken bis hin zu Collagen mit ausgeschnittenen Silhouetten reicht.

Wenn du an deine Kindheit zurückdenkst: Gab es da bereits etwas, das dich zur Kunst gebracht hat?

Genau das fragen mich meine Studenten auch manchmal. Im Esszimmer meiner Eltern hing damals ein Print aus einem Museum in Chicago. Das Motiv dieses chinesischen Künstlers – im Original ein Aquarell – war ein Stück Rasen mit Libellen, Käfern und Fröschen: also eigentlich der Blick in irgendeine Wiese. Ich konnte die Signatur allerdings nie entziffern.

Das erinnert mich gerade an den Titel eines deiner zahlreichen Bücher …

Ja, Botanic Code meinst du … Mein Elternhaus ist ja abgebrannt. Das war das einzige Bild, das damals überlebt hat. Heute hängt es in meinem Badezimmer. An den Rändern ist das Bild vom Feuer beschädigt, aber ich konnte das durch eine neue Rahmung und ein Passepartout kaschieren. Ansonsten gab es bei meinen Eltern auch noch Drucke von Leonardo und auch viele von Botticelli.

An welche Werke erinnerst du dich besonders?

An das „Abendmahl“ von Leonardo und die „Venus“ von Botticelli. Meine Mutter, die am Städel studiert hat, malte aber auch selbst – und macht das bis heute. Und so hingen bei meinen Eltern auch viele Bilder meiner Mutter an der Wand. Sie hat den Entstehungsprozess ihrer Werke aber stets vor ihren Kindern geheim gehalten. Wir durften damals nie in ihr Atelier.

Weil das Malen an sich für sie ein therapeutischer Vorgang war?

Nein. Sie wollte die zwei Welten, in denen sie lebte, trennen. Also gab es für sie entweder Kinder oder Kunst. Sie wollte ihre Kunstwelt von der Kinder-Thematik freihalten, so wirkte dies zumindest damals auf uns.

Aber Kinder sind doch neugierig. Bekommen die nicht doch etwas mit?

Ihr Atelier war immer abgeschlossen. Das Zimmer meines Vaters auch. Aber da haben wir irgendwann herausgekriegt, wo der Schlüssel war, und konnten uns Zugang verschaffen. Aber ich war nie im Atelier meiner Mutter! Wenn sie dorthin verschwand, hatte ich keine Ahnung, was genau sie machte. Und sie war in der Regel täglich zwischen 18 und 20 Uhr im Atelier …

Kanntest du denn ihr künstlerisches Œuvre?

Das schon. Im Haus hingen ja viele Bilder von ihr. Sie malte abstrakt. Eine Mischung in etwa aus Rothko und Turner. Es gab auch sehr feine, schwarze Kaltnadelradierungen mit Farbfeldern – außerordentlich schön. Die haben sich mir sehr eingeprägt und die fand ich auch unglaublich spannend. Man hätte die Arbeiten als abstrakte Topografien beschreiben können. Ich habe sie mal gefragt, was sie darstellen. Aber sie meinte nur, das könne sie mir nicht sagen. Sie hat nie darüber gesprochen.

Hat dich deine Mutter auf den Gedanken gebracht, selbst Künstlerin zu werden?

Das alles hat mich wirklich sehr fasziniert, aber ich hatte keine Ahnung, was Kunst eigentlich ist. Ich wäre in dieser Zeit auch nie auf den Gedanken gekommen, selbst Künstlerin zu werden. Ich wollte immer Schriftstellerin sein. Und deshalb habe ich dann auch erst einmal Literatur und Philosophie studiert. Bis ich dann gemerkt habe, dass mir das zu begrenzt ist. Nur lesen und schreiben. Und dass ich die verschiedenen Mittel, die die Welt sonst noch bereitstellt, auch noch begreifen will.

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