Im Château Royal in Berlin-Mitte hat Jorinde Voigt das Zimmer 505 nach dem Vorbild des legendären New Yorker Chelsea Hotel gestaltet. Dort sprachen wir mit der Künstlerin über ihre Kindheit, Mathematik und die Philosophin Erin Manning
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03.05.2023
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 7/23
Ja. Wir waren vier Kinder. Jeder musste zwei Instrumente spielen. Und jeder musste täglich mindestens vier Stunden üben. Das war Pflicht. Es war eine extrem „preußische“ Erziehung. Mein Sohn heute hat neben der Schule ganz bewusst viel Zeit zum Spielen. Das hatten wir nicht.
Die Musik hat mich bestimmt sehr geprägt. Und das, glaube ich, weil der Kontakt in einer Zeit stattgefunden hat, in der vieles im Gehirn noch wächst – so erkläre ich mir das jedenfalls. Ich habe mit neun Jahren begonnen, Cello und Klavier zu spielen. Und es ist total naheliegend, die Welt danach auch unter dem Aspekt der Rhythmisierung wahrzunehmen. Und dabei Koexistenzen, Atmosphären und Zusammenhänge zu spüren. Auch zu verstehen, dass man die Realität ebenso orchestral begreifen kann. Dass sich also eine Situation aus Einzelheiten aufbaut, die zusammen eine Atmosphäre ergeben: So kennt man das aus der Musik – und so lese ich auch Realität.
Also ich gucke mir eine Situation rückwärts an. Für welche Frequenzen gibt es da Handlungen und Abläufe. Wie ist der Beat, also das, was sonst als Textgesang, Melodie oder Klang bezeichnet wird. Das sind Aspekte, auf die hin man sich alles um sich herum anschauen kann.
Nehmen wir beispielsweise die Situation, als ich vorhin in dieses Hotel hineingelaufen bin. Da hat man die Architektur in einer bestimmten Farbigkeit. Da hat man eine bestimmte Temperatur. Man hat da eine Baustelle. Hört Baulärm. Man hat es eilig. Gleichzeitig trägt man schwer – ich hatte viele Bücher dabei. Und gleichzeitig sieht man Menschen, über die man sich freut. Wenn man eine Oper schreiben würde, wären das alles auch Aspekte, die dort zusammenkämen. Also Architektur löst in mir immer eine Resonanz aus, wie sie auch die Musik in mir entfacht. Überhaupt Welt. Der Ort. Also auch Dimensionen, eine bestimmte Farbigkeit oder Beschaffenheit.
Das war mir jetzt gar nicht so bewusst. Ich nähere mich jedenfalls den Dingen erst mal auf diese Weise an. Und auch das Emotionale besitzt ja etwas, auf dem es konkret fußt. Beispielsweise einen bestimmten Anlass. Ich persönlich habe in meiner Arbeit aber sehr darum gekämpft, auch das Emotionale aufnehmen zu können, Notationen dafür zu finden. Weil das Emotionale ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist, Gültigkeit besitzt. Als ich aufgewachsen bin, war das für mich nicht so. Als Kind war ich traumatisiert, weil das, was man war, nichts galt – nur das, was man sein sollte. Und ein Kind, das so aufwächst, verschwindet ja eigentlich.
Total. Von Anfang an. Immer schon. Was ist das hier um mich herum? Was ist das für eine Welt? Was brauche ich denn für besondere Mittel, um dies zu verstehen? Ich bin gewissermaßen in einer Schieflage gestartet: weil die Sachen anders genannt wurden, als sie sich anfühlten. Was als toll bezeichnet wurde, war am Ende schrecklich. Und darüber sprechen durfte man auch nicht. Daher war es für mich so dringend, eine Sprache zu entwickeln, die es möglich machte, über die Dinge so zu sprechen, wie sie sind. Aufgrund meiner Biografie erschien mir die verbale Sprache dafür nicht geeignet. Daher kam es, dass ich mir sagte, ich möchte dies auf einer anderen Ebene möglich machen.
Mathematik war mein Abiturfach.