Interview mit Jorinde Voigt

Date in Zimmer 505

Im Château Royal in Berlin-Mitte hat Jorinde Voigt das Zimmer 505 nach dem Vorbild des legendären New Yorker Chelsea Hotel gestaltet. Dort sprachen wir mit der Künstlerin über ihre Kindheit, Mathematik und die Philosophin Erin Manning

Von Sebastian C. Strenger
03.05.2023
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 7/23

Mathematik finde ich total interessant. Mathe und Kunst waren beides meine Abi-Fächer. Mein Vater kommt aus einer Mathematiker-Familie. Alle Onkel sind Mathe-Professoren. Und auch meinem Vater, einem Ingenieur, war es sehr wichtig, dass ich sehr gut in Mathe bin. Vor meinem Abi habe ich dann aber meine Leistung verweigert, weil ich meinem Vater nicht mehr gefallen wollte – und habe prompt das Mathe-Abi verhauen. Anschließend hat mein Vater fünf Jahre nicht mehr mit mir gesprochen. Ich bin extra schlecht gewesen – und es hat voll funktioniert (gemeinsames Lachen).

Was war bei dir denn der Schlüsselmoment, der die Entscheidung brachte, die Kunst zum Beruf zu machen?

Ich habe das gesamte Kunststudium über eigentlich noch nicht gewusst, was Kunst eigentlich sein soll. Ich hatte ja bei Katharina Sieverding Fotografie studiert. Und dann habe ich gemerkt: Ganz richtig ist das für mich nicht. Ich habe Fotos und Fotomontagen gemacht mit Bildbestandteilen, dabei sehr repetitiv und variativ gearbeitet, auch mit künstlichen Landschaften. Und da habe ich gemerkt, dass ich zu viel Zeit an meinem Computer verbringe. Auch, dass ich so nicht an mein eigentliches Potenzial rankomme. Dazu kam, dass ich mich durch die hohen Kosten, die Fotografie verursacht, zum Ende des Studiums bereits verschuldet hatte. Ich bin dann zu einer Schuldnerberatung gegangen, um das wieder in den Griff zu kriegen. Und im Zuge dessen habe ich festgelegt: Okay, das bedeutet jetzt totale Reduktion.

Welche Konsequenzen hast du daraus gezogen?

Die Frage war: Was brauche ich denn überhaupt? Eigentlich doch nur Stifte und Papier … Also habe ich fortan von bestimmten Situationen keine Fotos mehr gemacht, sondern nur noch aufgeschrieben, was mich an diesen Situationen interessiert oder aus was sie bestehen. Und es war ein wahnsinnig gutes Gefühl, zu merken, was ich aus diesen Notationen alles machen konnte. Dass ich mein ganzes Leben damit zu tun haben würde, wenn ich diesen Ansatz weiterverfolge.

Mit dem Ergebnis?

Ich konnte plötzlich Parameter für die Realitäten bestimmen, die für mich sichtbar waren. Ich konnte die Realitäten gewissermaßen als Choreografien spiegeln. Ich konnte zeitliche Abläufe einfügen, Situationen wiederholbar beziehungsweise wiederaufführbar machen und gleichzeitig dokumentieren.

Du hättest das aber doch auch literarisch machen können …

Aber es war genau das Gegenteil. Runter reduzieren auf das Wesentliche und dabei dann auch eine Art Kulturanalyse machen. Welche Art von Autos fahren da rum? Auf was für einer Oberfläche? Wie in damaligen US-Studien. In welcher Frequenz läuft da jemand über den Parkplatz? Und was für eine Dienstleistung macht der? Da habe ich gemerkt: Schon allein die Kleidung von Leuten, die an einer roten Ampel stehen, liefert einen lesbaren Code. Also ging es auch um eine Dokumentation einer sozialen Gegebenheit. Und der soziologische Aspekt hat mich immer schon sehr stark interessiert.

Auf den Punkt gebracht?

Jorinde Voigt
Jorinde Voigt, Jahrgang 1977, untersucht in ihren Werken Wirklichkeit und Wahrnehmung. Mit feinen Linien und Notationen überträgt die Berliner Künstlerin kognitive Prozesse in ihr Darstellungssystem. Dabei experimentiert sie – immer ausgehend von der Zeichnung – auch mit anderen Techniken und Materialien. © Amanda Holmes

Durch die extreme Reduktion – aber in einer Zeitachse, auch räumlich verschiebbar – lässt sich unglaublich viel ganz genau beschreiben. Und meine Kunst ist das Kristallin dessen. Ich habe gemerkt: Nun habe ich ein Handwerkszeug, das mich an die Gegenwart fesselt. Und plötzlich war ich dann auch in dieser Gegenwart – mit dem, was ich tue. Und fortan ging es dann darum, immer wieder neue Notationsformen für die jeweils anstehende Thematik zu kreieren. Also zu überlegen: Wie kriege ich es hin, die Auseinandersetzung so zu führen, dass man ganz direkt dran ist. Da ich mich natürlich über die Zeit hinweg selbst verändere, verändert sich auch meine Arbeit: Ich wähle andere Mittel, interessiere mich für andere Gebiete. Aber alles Geschaffene bleibt immer gültig.

Was ist mit Vorbildern?

Philosophen haben mich immer sehr interessiert. Ich habe auch immer viel gesucht in der Philosophie. Ich habe da alles gelesen, was ich kriegen konnte. Und ich bin sehr glücklich, dass ich für meine letzte Publikation On reality – Zeichnung als Operation an der Wirklichkeit, herausgegeben vom Moody Center for the Arts in Houston, die Kulturtheoretikerin, Philosophin und Künstlerin Erin Manning für ein Vorwort gewinnen konnte. Weil mich ihr letztes Buch Relationscapes total begeistert hat. Denn während ich es las, bekam ich plötzlich die Vorstellung von einer Welt, die sich wie ein Gewebe in verschiedene Richtungen verwebt und dadurch auch Stabilität bekommt. Ich fand das sehr besonders, weil Erin Manning beschreiben konnte, wie all diese Einzelteile ihre eigene Lebendigkeit besitzen. Sehr präzise. Es war ein Geschenk, das zu lesen.

Weil sie verbal liefert, was du intuitiv in deiner Kunst machst?

Ich hatte auf jeden Fall das Gefühl, sie hat das Buch für mich geschrieben (gemeinsames Lachen).

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