Spontan und ungestellt, den ausdrucksvollsten Moment erfassend und nah am alltäglichen Leben: Die Street Photography ist für viele der Inbegriff der Fotokunst. Sammelnden bieten sich Bilder in allen Preiskategorien
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02.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 214
Eine Qualität, die sich im übertragenen Sinn auch bei Paul Strands berühmter „Blind Woman“ aus dem Jahr 1916 wiederfindet. Die Nahaufnahme und das um den Hals gehängte Schild bringen das Gesicht zum Sprechen. Technisch war Strand fortschrittlicher ausgerüstet und beweglicher als Thomson. Er konnte nah herangehen. Strand gab diese direkte Art zu fotografieren jedoch schnell wieder auf.
Die Straßenfotografie manifestierte sich – anders als etwa der Piktorialismus – nicht als zusammenhängende Strömung. Sie zieht sich in Fragmenten durch die Geschichte des Mediums. Natürlich auch, weil fast alle, die im öffentlichen Raum mit der Kamera unterwegs waren, nicht lebenslang ausschließlich dieses Segment bedienten. Strand mit seinem kurzen Intermezzo ist ein extremes Beispiel. Colin Westerbeck zeigt in seinem Standardwerk über die Street Photography, dass Strand aber vor allem dabei war, ästhetisch Neuland zu betreten. Das lässt sich eindrucksvoll an seinem Wall-Street-Foto ablesen, das mit seinen ins Abstrakte spielenden schwarzen Flächen und eilenden Silhouetten wie „Blind Woman“ in die Geschichte der Straßenfotografie einging.
Einen längeren Atem bewies das Kindermädchen Vivian Maier. Seit Ende der 1940er fotografierte sie fünf Jahrzehnte lang auf den Straßen New Yorks und Chicagos, ohne je damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Das bislang bekannt gewordene Bildmaterial, das die Howard Greenberg Gallery in Zusammenarbeit mit Maiers Entdecker John Maloof vermarktet, macht deutlich, dass sie sich gezielt Themen setzte, die ihrer sozialen, politischen und kulturellen Überzeugung entsprachen, und dabei politische Auseinandersetzungen und Proteste nicht aussparte.
Das Feld der Street Photography wurde von so vielen Individuen bestellt, dass sich der Überblick leicht verliert. Das macht es auch nicht so einfach, eine Sammlung mit klugem Fokus aufzubauen. Eine Möglichkeit ist es, das Material nach Bildthemen zu gruppieren. So verfuhren die Kuratoren der Wanderausstellung „Street. Life. Photography. Street Photography aus sieben Jahrzehnten“, die 2018 in den Deichtorhallen Hamburg an den Start ging. Auch aus der historischen Perspektive lassen sich rote Fäden verfolgen. Einer, der europäisch geprägt ist und bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreicht, verbindet die oben erwähnten Flaneure. Ein weiterer ließe sich von den sozial inspirierten Aufnahmen John Thomsons über Jacob A. Riis, Lewis W. Hine, Paul Strand, Walker Evans, Dorothea Lange, Weegee, Bruce Davidson, Benedict J. Fernandez oder Mary Ellen Mark bis hin zu einem zeitgenössischen Künstler wie Tobias Zielony verfolgen. Eine dritte Linie könnte die Reisenden verbinden: Robert Frank, René Burri, Leonard Freed oder in jüngerer Zeit Hans-Jürgen Burkard.
Betrachtet man das Feld der sozialdokumentarischen Street Photography, dann fällt die Jahrzehnte andauernde Dominanz amerikanischer Fotografinnen und Fotografen auf. Zwei Gründe dafür lassen sich anführen. Einerseits wurde Armut in den USA bereits im späten 19. Jahrhundert ein diskursiv behandeltes Thema in Text und Bild. Dafür lieferte Riis mit seinen illustrierten Büchern „How the Other Half Lives“ (1890) und „The Children of the Poor“ (1892) aufrüttelnde Beispiele. Andererseits stimulierten bald auch institutionelle Auftraggeber die Bildproduktion. Hine etwa wirkte an einer soziologischen Untersuchung über die Industriearbeit in Pittsburgh mit und war ab 1908 im Auftrag des National Child Labor Committee tätig. Mit Tausenden Aufnahmen von Kinderarbeit trug er dazu bei, dass Reformmaßnahmen gegen diesen Missstand auf den Weg kamen.
Hine war später auch ein Dreh- und Angelpunkt für die Regierungsaufträge im Rahmen des New Deal in den Dreißigerjahren. Den Anstoß gab die Great Depression, die nach dem Börsencrash von 1929 durch Arbeitslosigkeit und Dürreperioden eskalierte und das Land ein Jahrzehnt lang in Atem hielt. Die Fotografie spielte eine zentrale Rolle, als Augenöffner und als visueller „Übersetzer“ der Hilfsprogramme. So entstanden die berühmten Aufnahmen, die Dorothea Lange und Walker Evans im Auftrag der Resettlement Administration und der Farm Security Administration (FSA) machten.
Die Street Photography als aufklärendes Medium hat einiges bewegt, auch noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Bruce Davidson etwa gelang es 1969 mit seiner selbst initiierten Serie „East 100th Street“, die Kommunalpolitik New Yorks überhaupt erst zum Handeln zu animieren. Hier ging es um den Problembezirk Spanish Harlem und die prekären Lebensumstände seiner Einwohner. Mary Ellen Mark konzentrierte sich in ihren mit langem Atem verfolgten Reportagen auf Menschen am Rand der Gesellschaft. Auch sie blieb nicht ohne Wirkung, etwa mit der Reportage über eine obdachlose Familie in Kalifornien, die sie 1987 und 1994 für das Life Magazine fotografierte.
Nach der Jahrtausendwende setzen die sozialdokumentarischen Farbaufnahmen des Deutschen Tobias Zielony markante Akzente. Sein großes Thema sind Jugendliche in Ballungsräumen und Vorstädten, die nach Einbruch der Dunkelheit zum Treffpunkt werden.
Zielony, der viel Zeit mit ihnen verbringt und ihr Vertrauen gewinnt, hält dennoch Distanz: „Die Jugendlichen inszenieren sich vor meiner Kamera, aber ich fordere das nicht ein. Das Posen ist Teil ihres Alltags.“ Als eigenes Feld könnte man die Fotografinnen und Fotografen betrachten, die viel reisten. Hier ging es nicht um die einzelne Aufnahme, sondern um ein Gesamtbild mit vielen Teilen, aus dem am Ende ein Buch hervorging. August Sanders Mappenwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ vor Augen, veröffentlichte Walker Evans 1938 den Band „American Photographs“. In diesem ersten Künstlerbuch der Fotografiegeschichte sind die Aufnahmen zu einem Bildessay angeordnet, der in der seriellen Komposition filmische Züge annimmt. Robert Frank folgte seinem Mentor Evans zwanzig Jahre später mit einer Langzeitbeobachtung der USA: „The Americans“ von 1959 wurde zum Kultbuch.
Parallel zu Frank arbeitete René Burri an seinem Dauerprojekt „Die Deutschen“, das 1962 als Buch erschien. Mit ähnlicher Stoßrichtung versuchte Leonard Freed in seinem 1970 erschienen Fotoband „Made in Germany“ ein gesamtgesellschaftliches Klima zu erfassen. Das Besondere: Jedes Foto begleitet ein Text, mit dem Freed einen zusätzlichen Imaginationsraum eröffnet. Nach der Wiedervereinigung wurde Deutschland unter neuem Fokus für Fotokünstler interessant. So bei Andreas Herzau, der 2006 sein Buch „Deutsch Land“ veröffentlichte. Oder Hans-Jürgen Burkard, der seit Beginn der 2000er mit neuen und alten Liedtexten im Ohr durchs Land reiste, um deutsche Zustände und Befindlichkeiten festzuhalten.