Street Photography

Ruf der Straße

Spontan und ungestellt, den ausdrucksvollsten Moment erfassend und nah am alltäglichen Leben: Die Street Photography ist für viele der Inbegriff der Fotokunst. Sammelnden bieten sich Bilder in allen Preiskategorien

Von Christiane Fricke
02.08.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 214

Burkards Buch „An Tagen wie diesen“ erschien 2020. In Druck ging es jedoch nur, weil sich der Fotograf das Einverständnis von Personen einholte, die sich in seinen Bildern wiedererkennen konnten. So war der Junkie, der sich am Frankfurter Hauptbahnhof einen Schuss in den Hals gab, einverstanden mit der Aufnahme. Gefahr drohte jedoch durch Kriminelle, die es im Rücken des Fotografen auf seine Ausrüstung abgesehen hatten. Burkard, der schleunigst den Rückzug antrat, blieb später nichts anderes übrig, als auf Weisung des Verlags zurückzureisen, den Mann erneut ausfindig zu machen und sich ein „Model Release“ unterschreiben zu lassen.

Für publizierende Fotografen ist das Recht am eigenen Bild, auf das eine sensibel gewordene Öffentlichkeit zunehmend pocht, zu einem Riesenproblem geworden. „Der Bereich ist eigentlich tot“, sagt Burkard. Auch Rudi Meisel, der zuerst den Alltag im Ruhrgebiet, seit 1978 bis Ende der Achtziger das Leben in der DDR einfing, hat es längst aufgegeben, auf der Straße zu fotografieren, und sich auf Landschaftsfotografie verlegt. Andere leben mit dem Risiko. Vor einigen Jahren äußerte der Fotojournalist Julius Schrank in einem Interview, er habe noch nie jemanden ein Model Release unterschreiben lassen. Die Street Photography lebe von Spontaneität und Zufall. „In so einem Moment mit einem Model Release zu wedeln, würde die Situation zerstören, und unterschreiben will es wahrscheinlich eh niemand.“

In Amerika wird das Persönlichkeitsrecht nicht so streng wie in Deutschland ausgelegt, wie die Arbeit von Philip-Lorca diCorcia zeigt. Für seine 1999 entstandene Serie „Heads“ fotografierte er am New Yorker Times Square Passanten in einer vorab festgelegten Weise. An einer Stelle, an der die Menschen unter einem Baugerüst entlangliefen, montierte er eine Blitzanlage, und den Boden versah er mit einer Markierung. Die in großem Abstand eingerichtete und mit einem starken Teleobjektiv ausgerüstete Kamera löste er aus, wenn jemand, der ihn interessierte, die markierte Stelle passierte.

Mitch Epstein
Mitch Epstein, Szene vor dem Bahnhof in Mumbai, 1989, zu erwerben bei Thomas Zander. © Mitch Epstein / courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Erno Nussenzweig, ein orthodoxer chassidischer Jude, sah seine Rechte verletzt, weil er nicht gefragt worden war, und klagte. Doch der Supreme Court von New York entschied, dass das Persönlichkeitsrecht hinter der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs- und Kunstfreiheit zurückstehen muss.

Preise und Plattformen

Explizit der Street Photography gewidmete Sammlungen sind selten. Eine Ausnahme ist der Journalist Freddy Langer, der aus seinem Besitz im letzten Winter 200 Straßenbilder von den Anfängen bis heute in Düsseldorf ausstellte. Grundsätzlich kommt man als Fotoliebhaber jedoch kaum um das Thema herum. „Keine Fotografiesammlung hat nicht auch Straßenszenen“, sagt Diandra Donecker von Grisebach in Berlin.

Ein sehr heterogenes Thema ist das Preisniveau. Das Spektrum ist weit. Es beginnt bei wenigen Dollar für Dorothea Langes berühmte „Migrant Mother“, wenn man sich mit dem Print vom digitalisierten Negativ begnügt, den die Library of Congress anbietet. Und es endet bei einer knappen Million, die Anfang Mai bei Sotheby’s New York für Robert Franks symbolträchtiges Bild einer Schwarzen, die ein weißes Baby im Arm hält, bezahlt wurde. Auf derselben Auktion gab es einen Spitzenpreis für einen Vintageprint, also einen zeitnah zur Aufnahme hergestellten Abzug der „Migrant Mother“: mit Aufgeld 610.000 Dollar.

Wer es auf erste oder sehr frühe Abzüge zu Lebzeiten oder unter Kontrolle der Fotografen hergestellte Abzüge von Arbus, Levitt oder Evans abgesehen hat, muss warten, bis sie wie in den genannten Fällen bei Auktionen auftauchen. Im Galeriehandel sind sie in der Regel nicht mehr zu bekommen.

Tobias Zielony Kids
Tobias Zielonys Bild „Kids“ entstand 2008 in der kalifornischen Wüstenstadt Trona. Aus der Serie sind noch einige Werke bei KOW in Berlin erhältlich. © courtesy the artist and KOW, Berlin

Wenn doch, müssen nicht selten 500.000 Dollar und mehr berappt werden. Für das Gros der bereits abgesicherten Positionen sind fünfstellige Summen fällig, beginnend mit Cartier-Bresson (im Schnitt 12 500 Euro) über Levitt (über 30.000 Dollar) bis hin zu Winogrand, dessen Bilder in der Regel zwischen 50.000 und 70.000 Dollar kosten.

Preiswerter sind nur die ganz alten und die jungen Fotografinnen und Fotografen. So konnte man 2022 beim Berliner Antiquariat Jens Mattow für 8000 Euro alle 37 Woodburytypien erwerben, die Thomson und Smith 1877/78 in ihrem Buch „Street Life in London“ publiziert hatten. Einzelne Prints aus der Serie kosten auf Auktionen zuweilen weniger als 100 Euro. Aus dem Bereich der zeitgenössischen Fotografie seien beispielhaft Hans-Jürgen Burkards kleinformatigere Bilder genannt. Er setzt sie je nach Motiv auf 800 bis 1200 an. Hier ist natürlich Luft nach oben. So erzielte Thomas Hoepkers berühmte Szene von jungen Leuten in Brooklyn am 11. September 2001, im Hintergrund das brennende World Trade Center, vor drei Jahren bei Lempertz samt Aufgeld 10.000 Euro.

Eine interessante Entwicklung zeichnet sich mit der Plattform und Webseite germanstreetphotography.com ab, die 2019 auch das erste German Street Photography Festival organisierte. Solche Initiativen richten sich mit Erfolg vor allem an begeisterte Amateure und werden von der Industrie unterstützt. Auf den ersten Blick widersprechen sie dem Eindruck, dass die Street Photography aufgrund der Persönlichkeitsrechte eine aussterbende Spezies ist. Das Dilemma wird in vielfältiger Weise umschifft. So taucht bei Siegfried Hansen, dem Mitgründer des Festivals und Mitglied des internationalen Straßenfotografie-Kollektivs In-Public, der Mensch oft nur noch als Abbreviatur, als Schatten oder durch Gegenstände verdeckt auf. Die Straße hat ihre Inspirationskraft nicht verloren.

Hier geht’s weiter zum Service des Sammlerseminars Street Photography.

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