Was mich berührt

Die Zeit der Verluste

Der junge israelische Künstler Navot Miller malt alltägliche Szenen von erlöster Farbigkeit. Ihre selbstvergessene Schönheit und unterschwellige Trauer könnten nicht besser in unsere Zeit passen. Für die Folge 12 seiner Kolumne „Was mich berührt“ hat Daniel Schreiber ihn in seinem Berliner Atelier besucht

Von Daniel Schreiber
25.10.2023

Das erste Mal hörte ich von Navot Miller durch einen Zufall. Die Moderatorin einer Literatursendung, bei der ich zu Gast war, zeigte mir eines seiner Bilder auf ihrem Telefon. Ein junger Künstler habe ihren Sohn porträtiert, sagte sie, und sie frage sich, ob sie das Bild kaufen solle. Ich schaute es mir auf dem kleinen Bildschirm an und so etwas wie ein Blitz durchfuhr mich. Dann riet ich ihr, es unbedingt zu kaufen, da es nach einer fantastischen Arbeit aussehe.

Ich weiß heute noch, wie es aussieht, dieses Bild: Ein junger Mann steht vor einem jener bodentiefen Pariser Fenster und raucht. Sein Gesicht ist zur Seite gedreht. Die Vorhänge sind in flächigen Rosatönen gemalt, die Kleidung des Mannes in strahlendem Rot und Blau, die Fenster in Grüntönen, Ultramarin und Hellblau. Der Himmel ist gelb. „Robert raucht in Paris“ (2021) fängt die Intimität eines bestimmten Moments ein. Es hält jene Sekunden während eines Gesprächs fest, in denen sich jemand abwendet, um einen Zug von der in diesem Fall elektronischen Zigarette zu nehmen. Seine erlöste Farbigkeit und sein Drahtseilakt zwischen Abstraktionswillen und Realismus, erinnern entfernt an die Kalifornienbilder von David Hockney. Wenn man es anschaut, verspürt man aus irgendeinem Grund den Wunsch, dass die ganze Welt so aussehen sollte wie dieses Bild. 

Miller und seine Arbeiten begegneten mir immer wieder. Als ich während einer Lesereise in Salzburg zu Gast war, fiel mir eine seiner Editionen im Museum der Moderne ins Auge. Russell Tovey hatte ihn in seinem populären Podcast Talk Art zu Gast. Eine kleine Galerie bei mir um die Ecke in Neukölln stellte einige seiner Werke aus. Man konnte seine Bilder im Netz und bei Kunstmessen sehen – er wird von der Carl Freedman Gallery in Margate, Yossi Milo in New York und der Braverman Gallery in Tel Aviv vertreten – und neuerdings, als Wandmalerei, auch im Café vom C/O Berlin.

Navot Miller Robert raucht in Paris
Navot Miller, „Robert raucht in Paris“ (2021). © Navot Miller
Navot Miller
Navot Miller, „Selbstporträt“, 2023. © Navot Miller

Die Bilder mit ihrer ureigenen, selbstvergessenen Farbigkeit hatten immer etwas Prosaisches und nahmen mich trotzdem gefangen: Junge Männer unterhalten sich darin in Badehosen am Strand oder am Swimmingpool, kommen aus dem Wasser und trocknen sich ab. Zwei Freundinnen sitzen sich schweigend an einem Tisch gegenüber. Ein Mann liegt nach dem Sex nackt auf einem Hotelbett und schaut auf den Bildschirm seines Telefons. Ein anderer steht, nur ein großes Handtuch um die Hüften geschlungen, in einem Türrahmen. Eine junge Familie in Sommerkleidung sieht sich ein Pferd auf einer Koppel an. Ein älteres Paar umarmt sich auf einem Balkon. Die Szenen halten Momente fest, die im Leben meist dem Vergessen anheimfallen und in denen sich dennoch der Großteil der Schönheit unserer alltäglichen Erfahrung verbirgt. Unmerklich erhöhen sie diese Momente, geben ihnen ein bestimmtes Gewicht, eine emotionale Dichte, die man oft übersieht, wenn man sie durchlebt.

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