Was mich berührt

Die Zeit der Verluste

Der junge israelische Künstler Navot Miller malt alltägliche Szenen von erlöster Farbigkeit. Ihre selbstvergessene Schönheit und unterschwellige Trauer könnten nicht besser in unsere Zeit passen. Für die Folge 12 seiner Kolumne „Was mich berührt“ hat Daniel Schreiber ihn in seinem Berliner Atelier besucht

Von Daniel Schreiber
25.10.2023

Vielleicht hatte ich auch deshalb immer wieder jenes unbestimmte Gefühl, wenn ich mir diese Arbeiten anschaute: Jedes Mal wünschte ich mir, dass die Welt, gerade jetzt, in diesen Zeiten, sich tatsächlich so anfühlen würde wie in ihnen. Wünschte mir, dass ich die Szenen meines Lebens in meiner Erinnerung so festhalten könnte, wie es Miller in seinen Arbeiten gelingt. Als wir nach einem Covermotiv für mein neues Buch „Die Zeit der Verluste“ suchten, in dem ich mich mit persönlicher und kollektiver Trauer auseinandersetze, mit den wachsenden Unwägbarkeiten dieser Gegenwart, in der wir leben, kamen für mich daher nur Millers Bilder infrage. Ich wollte, dass sich die Lesenden genauso fühlen, wenn sie das Buch zur Hand nehmen. Ich wünschte mir, dass es ein ähnlicher Balsam für Menschen in dieser von Verlusten geprägten Zeit sein könnte wie seine Arbeiten.

Navot Miller Daniel Schreiber
Navot Miller, „Felipe, Iñigo & Micky in Wittwesee“, 2023. © Navot Miller
Navot Miller Splash Daniel Schreiber
Navot Miller, „The Splash“, 2023. © Navot Miller

Wenn man Miller dieser Tage in seinem kleinen Atelier in Berlin Tempelhof besucht, kommt man natürlich nicht umhin, über die jetzige Zeit, über die aktuellen Verluste, den brutalen Terrorakt der Hamas und den ihm folgenden militärische Konflikt zu sprechen. Miller ist in Israel geboren und aufgewachsen, in Shadmot Mehola, einer kleinen Siedlung im Westjordanland, in einer modernen orthodoxen Gemeinschaft, inmitten von Oliven-, Orangen- und Dattelhainen, Weizenfeldern, Molkereien und Gewächshäusern mit Amaryllis- und Tomatenpflanzen. Seine Mutter stammt aus Brooklyn, sein Vater aus Algerien. Er beschreibt sein Elternhaus und das landwirtschaftliche Leben als religiös-heteronormativ, zugleich aber auch als pluralistisch und tolerant. Er ist sich bewusst, wie problematisch die israelische Siedlungspolitik sein kann, aber auch, dass das schlicht sein Leben war. Einige seiner Arbeit zeigen die Traktoren, die die Welt seiner Kindheit geprägt haben, aber mit einem rosa Anstrich.

Miller trägt blondierte Schläfenlocken. Sie kommen einem wie ein augenzwinkerndes Symbol für die große Intersektion seines Lebens vor, die zwischen seiner religiös geprägten ländlichen Herkunft und seinem schwulen Leben in Berlin. Heute hat er sie auf dem Kopf zusammengebunden, sie fallen kaum auf. Er macht das häufiger, doch dieser Tage hat er, wie wahrscheinlich die meisten Juden und Jüdinnen auf der Welt, Angst. Wäre er in Israel und New York, sagt er, würde er damit auf die Straße gehen, doch in Berlin mache er das zurzeit nur ungern. Ich erzähle ihm von den gewaltvollen Krawallen von Hamas-Unterstützenden, die jeden Abend vor meiner Haustür ausbrechen. Er ist nicht überrascht. Seine neue Ausstellung hat er „The Good Years“ genannt – ein Verweis auf ein Kapitel in Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“ –, weil er den Eindruck hat, dass eben jene guten Jahre gerade ein Ende finden.    

Navot Miller Gemälde
Navot Miller, „Sofia and Rudi in Bonnington House“, 2023. © Navot Miller

Nach seinem Militärdienst zog Miller im November 2013 nach Berlin, das er von Reisen kannte und wo eine Freundin seiner Schwester wohnte. Er war 22, wollte eigentlich Architektur studieren, landete aber letztlich in Hannes Brunners Klasse für Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Er hat nie Malerei studiert, fühlt sich aber dem Malen als künstlerischem Ausdrucksmedium verpflichtet. Das merkt man seinen Bildern auch an: Mit unbefangener Klarheit bringen sie seinen Blick auf die Welt zum Ausdruck, frei vom Korsett der Maltraditionen, von denen sich die Absolvierenden von Malereiklassen häufig erst freimalen müssen. Was ihm in seinen Arbeiten gelingt, ist eine überraschend unverstellte Kommunikation zwischen ihm als Malenden und seinen Betrachtenden. Natürlich lassen sich darin Referenzen zu anderen Malenden finden – neben Hockney fallen einem Patrick Angus, aber auch Norbert Bisky ein, und Miller selbst führt Nicole Eisenman, Tom of Finland und Amy Sherald als Einflüsse an sowie Fotografinnen wie Nan Goldin oder Peter Hujar. Doch man stellt schnell fest, wie unabhängig er von diesen Einflüssen agiert, und mit welch stiller Selbstverständlichkeit sich seine Bilder in die Geschichte der Malerei und der queeren Kunst einreihen, wie auch immer man diesen Begriff definieren mag.

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