Im niederländischen Otterlo befindet sich die zweitgrößte Sammlung von Werken Vincent van Goghs. Die Spuren ihrer unkonventionellen Stifterin sind im Kröller-Müller Museum auch nach fast einem Jahrhundert noch überall präsent
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04.09.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 231
Helene Kröller-Müller besaß lange bloß eine einzige Skulptur. Die Gründerin des Kröller-Müller Museums im niederländischen Otterlo erwarb zwar zahllose Gemälde, doch die 1910 entstandene „Große Stehende“, ein weiblicher Akt von Wilhelm Lehmbruck aus hellem Gussstein, blieb ein Solitär. Heute kann man einen ganzen Tag im riesigen Skulpturengarten rund um das Haus verbringen, der in den Nationalpark De Hoge Veluwe an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen eingebettet ist. Im Park wechseln urwüchsige, mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Stellen, aus denen sich die rostigen Scheiben von Richard Serras „Spin out, for Robert Smithson“ schälen, mit sorgsam gepflegten Rasenflächen. Hier schwebt die Aktfigur „L’Air“ von Aristide Maillol über ihrem steinernen Sockel, während Isamu Noguchis Bronze „The Cry“ einen weit geöffneten Mund auf zwei Beinen imaginiert. Im Teich schaukelt die „Sculpture flottante“ von Marta Pan, im 1966 errichteten Pavillon des Architekten Aldo van Eyck verbergen sich weitere Werke. Unweit davon reflektiert der 1972 vom französischen Art-brut-Künstler Jean Dubuffet errichtete „Jardin d’émail“ das Licht derart intensiv, dass einem auf dem glatt-weißen, begehbaren Plateau jede Orientierung vergeht.
Doch die fantastischen Arbeiten, die das weitläufige Gelände visuell prägen, wurden erst später von der Stiftung erworben, die Helene Kröller-Müller und ihr Mann 1928 gründeten. Sie selbst blieb bei Lehmbruck. Was die Skulptur besonders interessant für uns macht.
Die Pose der nahezu zwei Meter hohen „Stehenden“ ist klassizistisch, ihre Figur eher rubenesque. Eine Gestalt wie aus zwei Epochen, einmal voll Sehnsucht nach Haltung und Stilisierung – und gleichzeitig so unperfekt wie die Realität. Lehmbruck hatte noch keine traumatischen Erfahrungen als Kriegssanitäter gemacht, die ihn 1915 seinen „Gestürzten“ schaffen ließen, bevor er sich vier Jahre später das Leben nahm. Aber man ahnt die ungeheure Sensibilität und den zerbrechlichen Charakter eines Künstlers, der nach der Beschäftigung mit Rudolf Steiners Anthroposophie eine gesellschaftliche Neuordnung herbeisehnte. Gut möglich, dass Helene Kröller-Müller eine geistige Nähe zwischen sich und Lehmbruck spürte.
Auch ihre Biografie prägen konkurrierende Strömungen: Historie und Avantgarde, Krankheit und Kunstrausch. Helene Müller kommt im Februar 1869 auf die Welt, im Ruhrgebiet, als Tochter eines Stahlindustriellen. 1886 zieht die Familie nach Düsseldorf, Helene geht auf eine Schule für höhere Töchter, liest Schiller und Goethe. Besonders aber beeindrucken sie die ethischen wie metaphysischen Ideen des Holländers Spinoza. Der wissbegierige Teenager, Spross des späten 19. Jahrhunderts, verschlingt die Bücher eines Philosophen, der zweihundert Jahre früher lebte und dennoch, genau wie Helene, auf der Suche nach dem wahren Lebensziel war, das inspiriert und zugleich spirituell befriedigt. Bald beginnt sie, antikes Mobiliar, Keramik und Kunst aus Asien zu sammeln.
Als 19-Jährige heiratet Helene Müller den Niederländer Anton Kröller, Sohn eines Teilhabers am elterlichen Unternehmen. Dann stirbt ihr Vater unerwartet, Kröller übernimmt 1889 den Posten des Direktors, das Paar zieht von Rotterdam in die damals schicke Bucht von Haringvliet. Helene Kröller-Müller führt das Leben einer Direktorengattin, doch das genügt ihr nicht. Ab 1905 besucht sie zusammen mit ihrer Tochter Vorträge von Hendricus Petrus Bremmer, einem progressiven Kunsthistoriker, der die angehende Sammlerin bald inhaltlich berät. Nach dem ersten Ankauf einer eher konventionellen Landschaft von Paul Gabriël lässt sich Kröller-Müller auf die Malerei von Vincent van Gogh ein: 1908 ersteht sie das querformatige Stillleben „Vier verblühte Sonnenblumen“ des damals völlig unterschätzten niederländischen Malers.
Es ist der Auftakt einer innigen Liebe. Die Kunst von Van Gogh wird zum Signum ihrer Kollektion, das Tempo der Erwerbungen immer rasanter. Auf die Sonnenblumen folgen „Der Sämann (nach Millet)“ und „Stillleben mit Flasche und Zitrone“, danach das Bildnis der Augustine Roulin, „La Berceuse“, „Olivenbäume“ von 1889 sowie das „Porträt Joseph-Michel Ginoux“. Im Jahr 1912 gibt die Sammlerin innerhalb eines Monats die enorme Summe von 115.000 Gulden allein für Kunst aus.
„Manche Frauen kaufen in Paris Hüte und Handtaschen, Helene Kröller-Müller kaufte mit derselben Leichtigkeit van Goghs“, schreibt ihre Biografin Eva Rovers im Buch „Sammeln für die Ewigkeit“, für das sie über 3000 Briefe aus dem Nachlass sichtete. Von einem dreitägigen Besuch der französischen Hauptstadt, so Rovers, sei die vermögende Frau im Frühjahr 1912 mit fünfzehn Gemälden zurückgekehrt. Es klingt obsessiv, doch Helene Kröller-Müller hat damals bereits ein festes Ziel. 1911 war sie schwer erkrankt, die notwendige Operation riskant. Daraus resultierte ein Schwur: Sollte sie den Eingriff überleben, würde sie den Niederländern ein Haus schenken und darin die Kunst der Moderne für alle zugänglich machen.
Mission Museum: Begonnen hatte sie damit schon 1908. Damals hingen die Gemälde im Büro ihres Mannes. Auch Anton Kröller besuchte zusammen mit Bremmer Auktionen und Galerien, um mehr von der zeitgenössischen Kunst zu verstehen. Er blieb allerdings bei seiner Vorliebe für Malerei des 17. Jahrhunderts. Andererseits empfing er Besucher wie den künftigen Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, Alfred Barr, der sich die Sammlung von Helene zeigen ließ und anschließend ihre Courage lobte.