Im niederländischen Otterlo befindet sich die zweitgrößte Sammlung von Werken Vincent van Goghs. Die Spuren ihrer unkonventionellen Stifterin sind im Kröller-Müller Museum auch nach fast einem Jahrhundert noch überall präsent
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04.09.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 231
Nun aber zählt nicht länger der persönliche Geschmack. Vielmehr geht es um einen analytischen Blick auf die Avantgarde und ihre Entwicklung. Werke der Pointillisten Paul Signac und Georges Seurat, von Picasso und Georges Braque oder dem Konstruktivisten Piet Mondrian gelangen in die Sammlung. Leuchtende Beispiele der französischen und niederländischen Kunst, aber weder Fauvisten noch deutscher Expressionismus, kein Dada oder Bauhaus. Helene Kröller-Müller kann mit diesen Strömungen nichts anfangen, sie verzichtet trotz der neuen Ausrichtung ihrer Sammlung darauf. Für den Futurismus hat sie mehr übrig, sieht sich jedoch außerstande, wichtige Werke zu erwerben; dafür ist es zu spät. Und immer noch kann sie die Hände nicht von van Gogh lassen. Seinem Zweifel an Kirche und Glauben, dem er sich stellte, um trotzdem zu tieferen Einsichten und vielleicht sogar zum Sinn des Lebens zu gelangen, sind ihr vertraut. Was sich in den Motiven an inneren Kämpfen spiegelt, versteht Kröller-Müller unmittelbar. Am Ende besitzt sie knapp 90 seiner Gemälde und 180 Zeichnungen, die spektakulären Einkaufstouren lenken den Blick auf das Werk und tragen erheblich zum späten Ruhm des Malers bei. Das Kröller-Müller Museum verdankt ihrer Passion die zweitgrößte Van-Gogh-Sammlung überhaupt. Nur das Van Gogh Museum in Amsterdam hat mehr zu bieten.
Ab 1920 befasst sich der visionäre Architekt Ludwig Mies van der Rohe mit einem Entwurf für das künftige, von Kröller-Müller ersehnte Museum. Nach seinen Zeichnungen soll es ein Tempel werden, erhöht gelegen auf den gewaltigen Ländereien, die das Ehepaar im Osten der Niederlande ab 1909 sukzessive erwirbt. Anton Kröller geht leidenschaftlich gern auf die Jagd, seine Frau reitet. Erste finanzielle Probleme erzwingen 1922 einen Stopp: Der Handel mit Stahl und Kohle, der den Kröllers während des Ersten Weltkriegs so viel Geld eingebracht hat, stagniert. Sieben Jahre später bringt die Weltwirtschaftskrise das international vernetzte Unternehmen an den Rand des Ruins. Helene kann keine Kunst mehr kaufen, bewahrt allerdings die Nerven und plant ab 1928 mit unglaublicher Weitsicht die Kröller-Müller-Stiftung. Ihre gesamte Sammlung fließt darin ein und wird dem niederländischen Staat 1935 zum Geschenk gemacht. Unter einer Bedingung: Er muss ein Museum dafür bauen.
Diesmal macht sich der Architekt Henry van de Velde an die Arbeit. Seine Pläne auf dem Grundstück der Kröllers, das ebenfalls in eine Stiftung übergeht, sehen ein schlichtes Gebäude mit klaren Linien und sanften Schwüngen vor. Die intime Atmosphäre einer Villa passt zum Charakter einer ehemals privaten Sammlung, schwere Teppiche, Möbel und Blumenbouquets runden den Eindruck ab. An den Wänden hängen die Heroen der Moderne, es gibt einen Fokus auf niederländischer Abstraktion − und Bilder von Jan Toorop, Odilon Redon oder Jan Thorn Prikker. Schwüler Symbolismus, religiös grundierte Kunst: erstaunlich für die Vorwärtsdenkerin.
Helene Kröller-Müller hat ihre Sammlung abgeschlossen. Nur einmal greift sie noch ein, regt 1939 den Bau eines Luftschutzbunkers in einer Sanddüne des Parks an, der erst nach Kriegsausbruch fertig wird. Die Sammlerin und Stifterin stirbt am 14. Dezember 1939. Sie erlebt nicht mehr, wie sämtliche Kunstwerke im Sommer 1940 im Bunker in Sicherheit gebracht werden. Das Museum schließt, dient als Notlazarett für 350 Patienten, deren Betten in den Sälen van de Veldes unterkommen. Im April 1945 befreien kanadische Soldaten die Gegend und helfen bei der Wiederherstellung des Gebäudes, das Museum wird gleich im Oktober wieder eröffnet.
Seitdem wurde bewahrt wie fortentwickelt. Der Skulpturenpark erweitert sich jedes Jahr, die neuen Arbeiten dehnten die Vorstellung von skulpturaler Kunst enorm. 2016 etwa kam „La Saison des Fêtes“ von Pierre Huyghe dazu. Er legte auf einer sandigen Fläche ein ovales Beet an und ließ dort 45 verschiedene Pflanzen setzen, die wie unsichtbar choreografiert stets nacheinander blühen. Das Gebäude wurde 1977 um einen Flügel von Wim Quist erweitert, der ihn modernistisch funktional entworfen hat. Auch die Zahl der Bilder und Skulpturen wuchs immer noch. Van Goghs großartiges Werk „Die Kartoffelesser“ gelangte erst mit Museumsdirektor Willy Auping nach 1945 in die Sammlung. Helene Kröller-Müller hatte zuvor allerdings eine Studie sowie Skizzen von Bauernköpfen aus Nuenen erworben, mit denen sich van Gogh auf das Motiv vorbereitete.
Doch auch sie selbst ist weiterhin präsent. Schon der Sammlung wegen, in der sich ihr Enthusiasmus für alles Neue, die Traditionen Sprengende artikuliert. Der Altbau mit seinem weichen Oberlicht verbreitet noch immer das Flair von damals, bis hin zu den üppigen Blumensträußen, die nach wie vor arrangiert und regelmäßig ausgetauscht werden. 2003 zeichnete das Museum in seiner Ausstellung „Vincent & Helene“ noch einmal die Geschichte nach. Auf dem Plakat erschienen beide Köpfe, grafisch angeschnitten und miteinander verbunden: Zum ersten Mal vollzog das Haus seine eigene Geschichte, den Erwerb der Bilder wie auch Helenes Ambitionen nach. Die Materalien dazu sind überreich, allein schon die vorhandenen Briefe und Notizen geben Aufschluss über ihre Ideen, Gedanken und Gefühle.
Die kommende Ausstellung im Kröller-Müller Museum, das Benno Tempel seit Anfang des Jahres als Direktor leitet, destilliert daraus etwas Neues. Mehr als zwei Jahrzehnte nach „Vincent & Helene“ scheint die Zeit reif für eine Auseinandersetzung mit den spirituellen Aspekten im Leben einer Sammlerin, deren rationale Seiten bislang im Vordergrund standen. „Searching for meaning“ heißt die Schau, die am 5. Oktober beginnt. Sie sucht zwischen den divergierenden spirituellen Bewegungen an der Wende zum 20. Jahrhundert, zu denen sich neben Akosmismus und Okkultismus auch Yogaismus, Humanismus und Spinozismus gesellten.
Kröller-Müller, die sich als Jugendliche für Spinoza begeistert hatte, fand in Hendricus Petrus Bremmer einen Geistesverwandten. Auch ihr Berater stand dem offiziellen, in seinem Fall katholischen Glauben kritisch gegenüber, religiöse Erfahrungen machte er lieber mittels mystischer Kunstbetrachtung. „Searching for meaning“ erkundet die Sammlung im Spiegel des Spinozismus, der Göttliches in allem Irdischen erkannte. Und Kunst als einen Schlüssel zur Seele. Aus dieser Perspektive erklärt sich nicht bloß Helenes früher Entschluss, ein Museum inmitten der Natur als Zentrum eines geistigen Lebens zu bauen, von dem sie sich Ruhe zur Reflexion versprach. Darüber hinaus prägten Introspektion, Philosophie und Spiritualität ihr Kunstverständnis. Das erklärt auch die Anwesenheit von Jan Thorn Prikker, Jan Toorop, Odilon Redon, James Ensor oder des belgischen Symbolisten William Degouve de Nuncques. „Le désespoir de pierrot“, den Ensor 1910 zwischen bizarr Maskierte platzierte, oder Redons „Cyclope“ von 1914, der auf eine schlafende Nackte stiert, das Einauge als Symbol für Kontrolle und ebenso für eine mysteriöse, unbekannte (Innen-)Welt – bislang waren diese Künstler in der Sammlung schwer einzuordnen. Die Ausstellung gibt ihnen einen zentralen Patz und verhandelt ihre Bedeutung für Helene Kröller-Müller neu.
„Searching for Meaning“
Kröller-Müller Museum, in Otterlo, Niederlande
vom 5. Oktober bis 11. Mai