Fahrradtour in Bayern

Auf den Spuren des Blauen Reiter

Zwischen Starnberger See und Alpenrand wurde einst ein bedeutendes Kapitel der Kunstgeschichte geschrieben. Mit dem Fahrrad erkunden wir die Orte, die zur Seelenlandschaft des Blauen Reiter wurden

Von Alexander Hosch
23.10.2024

„Wissen Sie, dass Gabriele Münter und Wassily Kandinsky oft in den Süden radelten, als sie sich ab 1902 in der Malschule Phalanx näherkamen?“, fragt Melanie Vietmeier uns Radl-Freunde am Tag vor unserer Tour. Sie steht vor einer Auswahl von Gemälden, die bis März nächsten Jahres im Münchner Lenbachhaus zu sehen sind. Einige der Meisterwerke, für die das Haus bekannt ist, weilen gerade in London, zur großen Expressionistenausstellung. Dennoch sind ausreichend Highlights in München zu bewundern: „Blaues Pferd I“ von Franz Marc von 1911 zum Beispiel und seine „Vögel“, Alexej von Jawlenskys „Tänzer Alexander Sacharoff“ sowie Wassily Kandinskys geniale erste Abstraktionen. In den Vitrinen finden sich viele spannende Juwelen aus dem Depot und Neuerwerbungen – so eine von Franz Marc bemalte Kinderkommode. Wir achten vor allem auf die Motive, die im Blauen Land südlich von München auf Papier oder Leinwand geworfen wurden: etwa Wassily Kandinskys Studien von Murnau mit der Kirche und der Grüngasse. „Immer wieder faszinierte ihn dieses Motiv, und er setzte sich zum Malen täglich an dieselbe Stelle“, erzählt Melanie Vietmeier. Gabriele Münter hat für ihre Malausflüge oft den Staffelsee gewählt – und den Blick über die Heuhocken des flachen Murnauer Mooses auf die alpinen Felsriesen.

Das Lenbachhaus ist der natürliche Startpunkt für eine Radtour ins Reich des bayerischen Expressionismus. Mit mehr als 2000 Blaue-Reiter-Werken, dem weltgrößten Bestand, ist es der ideale Ort für einen Vorgeschmack auf Kochel, Murnau und eine Velo-Reise zu den kleineren Spezialmuseen im Voralpenland. Die Reise, die auch die Museenlandschaft Expressionismus auf ihrer Website empfiehlt, umfasst insgesamt stolze 185 Kilometer. Wir gehen es entspannt an und wollen ausprobieren, was davon in drei, vier Tagen zu schaffen ist. Deshalb bewegen wir uns vom Lenbachhaus erst mal zum Münchner Hauptbahnhof für eine kurze Zugfahrt samt Rad nach Penzberg. Knapp 50 Minuten später vertiefen wir uns dort in das Werk von Heinrich Campendonk. Annette Vogel, seit 2023 Leiterin des Museums Penzberg, wird hier unsere Reiseführerin. „Marc und Kandinsky hatten den 21-jährigen Krefelder 1911 eingeladen. Er zog nach Sindelsdorf, doch vor allem hatten es ihm die Koloniehäuser, Fördertürme und Industrieschlote der Bergwerksstadt Penzberg angetan. Campendonk sah auch die Armut. Dennoch stellte er die oberbayerische Natur als einen Garten Eden dar. Ihn bewegte – mehr als die restlichen Blauen Reiter – die Harmonie zwischen Mensch, Tier und Pflanze.“ Campendonk ist vor allem für seine leuchtenden Hinterglasbilder mit dem fast magischen Tiefenlicht berühmt. Die größten News zu diesem Künstler in diesem Jahr betraf ein anderes künstlerisches Format: 36 handbemalte Postkarten, im Vorjahr von der Ernst von Siemens Kunststiftung aus dem Nachlass erworben, sind jetzt ständig in Penzberg ausgestellt. Zarte Liebespost an die spätere Ehefrau Adda, surreal-naiv aufgefasste Tiere. Was für ein Gewinn für die größte Campendonk-Sammlung weit und breit! Von mehr 300 Werken residieren die besten Ölbilder, Aquarelle, frühe Tuschpinselzeichnungen, Holzschnitte und Hinterglasbilder im Neubau. Und weil uns auch ein ins Treppenhaus gefügtes Glasmotiv beeindruckt, radeln wir noch flugs die 500 Meter weiter zur stets offenen Christkönigskirche mit zwei weiteren Campendonk-Buntglasfenstern.

Loisachufer
Loisachufer. © Museum Penzberg

Das nächste Ziel – knapp 20 Minuten weiter auf grünen und gekiesten Wegen – ist Sindelsdorf. Die Gemeinde war von 1909 bis 1914 der Wohnort von Franz Marc und Maria Franck-Marc und gilt als Wiege des Blauen Reiter. Hier steigen wir am „Malerweg“ immer mal wieder vom Rad, um uns einige der 15 mit Infotafeln illustrierten Stationen anzusehen. Besonders interessant ist die berühmte Gartenlaube, die 1911/12 quasi die Redaktionsstube der Künstlerinnen und Künstler war, die Off-Mühle und das einstige Wohnhaus, vor dem Franz Marc verletzte Rehkitze aufpäppelte. Viele seiner bedeutenden Bilder wie „Rote Rehe“ und „Blaues Pferd“ entstanden hier. Heuhocken, hier auch Strahdrischen genannt, noch so ein Lieblingsmotiv sowohl von Gabriele Münter als auch von Franz Marc, finden wir ebenfalls. Als Kandinsky und Marc längst beschlossen hatten, die Neue Künstlervereinigung München zu verlassen, vor allem weil der immer abstraktere Stil Kandinskys dort Ablehnung fand, bereiteten sie in der Sindelsdorfer Gartenlaube eine Parallelschau und den Almanach Der Blaue Reiter vor, eine der wichtigsten künstlerischen Programmschriften des 20. Jahrhunderts. Neben ihren Ausstellungen in der Münchner Galerie Thannhauser gilt der Almanach als die größte Leistung der Gruppe. Kunstschaffende diverser Disziplinen wie der Komponist Schönberg und der französische Maler Robert Delaunay wirkten mit. Der Weg in die Abstraktion begann, während zugleich Kinderzeichnungen, Masken vom afrikanischen Kontinent sowie bayerische und russische Volkskunst maßgeblichen Einfluss auf die neue Ästhetik nahmen.

Ab Sindelsdorf treten wir mit Blick auf die Benediktenwand (1800 Meter) im Osten und die bayerische Hochalpenkulisse im Süden in die Pedale. Das Naturerlebnis steht jetzt eine Stunde lang im Vordergrund. Wir lassen uns vom Wetter und von den Wegweisern vor Ort leiten, fahren auf eigene Faust auf landwirtschaftlichen Pfaden durch die Landschaft der Loisach-Kochelsee-Moore, ohne auf asphaltierte Wege entlang der Autorouten angewiesen zu sein. Wasserschrauben und andere Seegräser im kleinen Sindelsbach begeisterten uns genauso wie die realen landschaftlichen Motive der expressionistischen Bilder, die man hier mehr synästhetisch durchlebt und empfindet als nur vergleichend aufruft. Die letzten Kilometer nach Kochel streifen wir direkt an der Loisach entlang – auf einem schmalen Pfad, der nur an trockenen Tagen und mit Mountainbikereifen zu empfehlen ist.

Am Ende der Etappe geraten wir ein wenig aus der Puste und bewältigen im kleinen Gang die Anhöhe. Wir schaffen knapp unseren Termin mit Jessica Keilholz-Busch, die in Kochel am See kürzlich das Franz Marc Museum als Direktorin übernommen hat. Das Haus mit ansehnlichem Park am Ostufer ist bemerkenswert gut mit Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Skulpturen des 1916 im Ersten Weltkrieg gefallenen Marc (aber auch anderer Expressionisten sowie zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler) ausgestattet. 2008 hat das Haus einen modernen Annex erhalten – und jüngst einen weiteren: den Blau Raum für Museumspädagogik. Der in München geborene Marc, der 1914 kurz bei Kochel lebte, war der Lokalmatador unter den kosmopolitischen Blauen Reiterinnen und Reitern, die Paris kannten, aus Russland, der Schweiz oder dem Rheinland stammten.

Wassily Kandinsky, „Studie für Murnau mit Kirche II“ von 1910
Wassily Kandinsky, „Studie für Murnau mit Kirche II“ von 1910. © Nikolaus Steglich

Nächste Seite