Fahrradtour in Bayern

Auf den Spuren des Blauen Reiter

Zwischen Starnberger See und Alpenrand wurde einst ein bedeutendes Kapitel der Kunstgeschichte geschrieben. Mit dem Fahrrad erkunden wir die Orte, die zur Seelenlandschaft des Blauen Reiter wurden

Von Alexander Hosch
23.10.2024

Soll denn in diesem tollen Museum samt dem traumhaften Bilderschatz überhaupt etwas verändert werden? Die neue Chefin in Kochel, die vorher unter anderem Kuratorin am Duisburger Lehmbruck Museum war, lächelt. „Ein paar Ideen müssen schon noch dazukommen“, findet sie. Wer das Haus in den nächsten Monaten besucht, wird daher bereits Keilholz-Buschs neue Hängung der Expressionistensäle sehen. Darin ist ihr Interesse an der Gefühlswelt der dargestellten Tiere erkennbar. Die zentrale Präsentation von Motiven wie dem von Marc einst zerschnittenen Bild „Große Landschaft I“ (mit Pferden, die à la Romantik in den Bildraum schauen) deutet an, dass die Geschichte der expressionistischen Malerei vielleicht noch nicht auserzählt ist. Die geplante Schau „Die Moderne und der Zoo“ wird dann 2025/26 Themen wie Achtsamkeit, Tierrecht und Tierwohl in den Fokus nehmen. Und mit der frisch erworbenen Ölarbeit „Blüten und Blätter“, die Maria Franck-Marc 1913 schuf, stellt sich auch eine Frage für die Zukunft: War Franck-Marcs Rolle und die anderer Frauen des Blauen Reiter wie Elisabeth Macke, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin nicht noch bedeutender, als es in der Kunstgeschichte bis dato dargestellt wird?

Zwei Museen und der Parcours durch Sindelsdorf an einem Tag sind ein dichtes Programm – damit die Kunst nachwirken kann, folgt am Abend eine einstündige Radetappe bis Schlehdorf: erst erneut durch Moorlandschaft, danach ein kleiner Anstieg auf 670 Meter nach Ohlstadt, wo wir das Cordon bleu im Dorfbachstüberl genießen. In Ohlstadt liegt auch unser nach einer Edelpflaume benanntes Nachtquartier Diringlo, das wir für die zwei Nächte gewählt haben, weil es so schön zentral zwischen allen Museen liegt. Auf diese Weise eröffnet das gerade mit dem artouro-Tourismusarchitekturpreis ausgezeichnete Bauernhaus-Ensemble die Chance, immer wieder neu zu kleinen, mittleren oder langen Radschleifen aufzubrechen. Je nach Wetter, persönlichen Kräften und Zeitbudget.

Die einstige Ohlstädter Ferienvilla von Friedrich August von Kaulbach heben wir uns für einen anderen Ausflug auf. Auch wenn es bei dem 1920 verstorbenen Münchner Malerfürsten durchaus eine Verbindung zum Expressionismus gibt: Kaulbachs Tochter „Quappi“ heiratete 1924 Max Beckmann, und der bedeutende Solo-Expressionist malte einige Sommer lang in Ohlstadt. Doch wir wollen uns nun auf die Spuren Gabriele Münters begeben. Deren Mut, wichtige Werke zur Zeit des Nationalsozialismus zu bewahren und ihre üppige Schenkung an das Lenbachhaus im Jahr 1957, wurde so etwas wie der Urgrund für die reich gefüllte Blaue-Reiter-Schatzkammer in München und den Museen im Blauen Land. Um ihr eigenes künstlerisches Schaffen zu erkunden, brechen wir am nächsten Morgen vom Diringlo ins Schlossmuseum Murnau auf. Wir radeln 20 Minuten zwischen Feldern und Wiesen – erst aus Ohlstadt heraus bergab, dann bergauf nach Murnau. Das Museum hat jüngst durch eine – nun dauerhaft im Erdgeschoss eingerichtete – Leihgabe der KK-Stiftung seinen ohnehin opulenten Fundus an Werken August Mackes, Paul Klees, Robert Delaunays, Wassily Kandinskys und Gabriele Münters noch mal deutlich erweitert. Zusätzlich gibt es hier bayerische Hinterglasbilder von der Barockzeit bis zum Blauen Reiter zu sehen.

Das Schlafzimmer von Kandinsky im Münter-Haus in Murnau, mit einer von Gabriele Münter bemalten Kommode
Das Schlafzimmer von Kandinsky im Münter-Haus in Murnau, mit einer von Gabriele Münter bemalten Kommode. © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

„Ich habe da einen großen Sprung gemacht“, schrieb Gabriele Münter 1911 in ihr Tagebuch über ihre Erfahrungen im kleinen Ort Murnau, der in den Jahren zuvor für sie alles verändert habe. „Vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extrakts.“ Im Juli 1909 hatte sie das befreundete Malerpaar Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky in einer kleinen, bis heute unfassbar modernen Ölstudie auf einer Wiese sitzend festgehalten – sattes Grün, blauer Himmel, die Konturen der Personen schwarz umrandet, die Gesichter maximal reduziert, der riesige Hut aber knallig bunt. So entwickelten die Malerinnen und Maler, voneinander lernend, in der Murnauer Sommerfrische die Lektionen des Cloisonismus weiter, der in Frankreich eine neue Bildsprache begründet hatte. Für uns Radler von heute folgen kleine Touren am Staffelsee, den wir schon von vielen Gemälden kennen, die ihn oft mit Booten und vor Bergen zeigen. Immer wieder geht es sehr kurze Etappen steil bergab und bergauf.

Erst nachmittags ist das ehemalige „Russenhaus“, das jetzt Münter-Haus heißt, geöffnet. An dieser zweiten wichtigen Murnauer Kunsttankstelle erfahren wir vom Experten Christian Schied, der vom Workshop mit einer Malgruppe im Murnauer Moos noch Farbe an den Fingern hat, wie begeistert viele Besucherinnen und Besucher von diesem Ort sind. Münter und Kandinsky bemalten in der zwischen 1909 und 1914 gemeinsam bewohnten Sommervilla nicht nur Leinwände, sondern auch Möbel und Treppenwangen. Schied kann einfühlsam erläutern, wie das Paar es genoss, in dem einst frei stehenden Haus die Ansicht Murnaus mit Kirche und Schloss exklusiv zu haben. Inzwischen sind in dem 1998 revitalisierten dreistöckigen Haus Gemälde aus Münters gesamter Lebenszeit verteilt. Der bunte Blumengarten mit den Rundbeeten soll fast so aussehen wie früher. Dass wir auf dem Rückweg ein Stück durchs Murnauer Moos radeln, ist geradezu ein Muss, schon wegen der Sicht auf die Ammergauer Alpen und die Zugspitze. Das Moos ist ein Relikt vergangener Eiszeiten – und stellt mit 32 Quadratkilometern Mitteleuropas größte zusammenhängende Moorlandschaft dar. Hier, südlich von Murnau, haben Münter und die anderen Blauen Reiter oft im Freien gearbeitet.

Murnauer Moos. © Dietmar Denger / erlebe bayern
Murnauer Moos. © Dietmar Denger / erlebe bayern

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