Die documenta fifteen im Sommer wird ein Abenteuer: Geplant wird sie vom Kollektiv ruangrupa aus Jakarta, das auf die Stärke der Gemeinschaft setzt. Ein Vorab-Interview in Kassel
Von
05.01.2022
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Erschienen in
Kunstplaner 2022
Iswanto Hartono kommt zum Gespräch dazu.
Wie viel wussten Sie über die documenta, als Sie von der Findungskommission eingeladen wurden, einen Konzeptvorschlag zum Auswahlverfahren einzureichen?
RA Nicht sonderlich viel. Von uns neun hatte nur einer schon einmal eine documenta gesehen.
MA Wir wussten von der Existenz der documenta. So wie man weiß, dass es das „Rock am Ring“-Festival gibt oder dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist. Allerdings haben wir in der ersten Runde gar keinen detailliert ausgearbeiteten Vorschlag für ein festes Konzept eingereicht. Als uns die Findungskommission per E-Mail einlud, anonym eine „Erklärung unseres Interesses“ zum Auswahlverfahren zu schicken, war unsere Antwort: „Vielen Dank für die Einladung! Hiermit erwidern wir die Geste und laden euch ein! Wir laden euch ein, gemeinsam zu dem Konzept zu arbeiten, das wir täglich praktizieren: lumbung.“
RA Vor dem Konzeptvorschlag luden wir sie ein, sodass wir gegenseitig unsere Ressourcen anerkennen.
Um ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen und damit die Hierarchie des Auswahlverfahrens zu durchbrechen?
RA Ja, die Idee ist, die Ressourcen gemeinsam zu teilen. Die documenta ist eine sehr große, mächtige, extraktive Mega-Institution geworden. Aber für uns ist sie eine Ressource. Und ruangrupa ist ebenfalls eine Ressource. Also sagten wir: „Wenn du, documenta, uns glauben machen willst, dass auch du eine wichtige Ressource für die ganze Welt bist, dann stelle sicher, dass wir Teil dieser Ressource sein können, sodass wir gemeinsam unser unterschiedliches Wissen verbreiten.“ Und daraufhin haben sie gesagt: „Ja, wir würden das gerne so machen.“ Erst dann haben wir unseren Konzeptvorschlag eingereicht.
MA Arnold Bode startete 1955 die documenta und lud Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt ein, um die Wunden des im Krieg zerbombten Kassel zu heilen. Im selben Jahr 1955 organisierte Sukarno, der Gründungsvater Indonesiens, die Asian-African Conference in Bandung mit allen Ländern, die kolonisiert worden waren, um mit ihnen über ihre Zukunft zu sprechen und die Wunden der Welt zu heilen. Wir betrachten diese Ereignisse immer zusammen, wenn wir über die Geschichte der documenta sprechen.
Der gesellschaftspolitische Anspruch der documenta, die Welt mit einer Ausstellung ein wenig besser zu machen, wie er etwa in Joseph Beuys’ Aktion „7000 Eichen“ zum Ausdruck kam, spielt also auch bei dieser Ausgabe eine Rolle?
RA Die documenta findet immer im Bezug zur Weltgeschichte statt und daher stets auch aus politischen Gründen. Wir wissen und respektieren das. Aber die Frage ist doch, warum wir nun als künstlerische Leitung ausgewählt wurden, welche Bedürfnisse wir aus unserer Erfahrung heraus stillen können. Es gilt dabei, die Ignoranz des Westens zu überwinden, der von der asiatischen Kunstszene nicht viel weiß und sie daher verzerrt sieht. Und wir agieren im Sinne der Asian-African Conference, die nicht auf den Kolonialismus zurückblickte, sondern fokussiert die eigene Zukunft betrachtete. Auch damals sprach man über die gute Verteilung eigener Ressourcen. Wichtig ist allerdings, dass wir nicht nur den großen Rahmen betrachten, sondern unsere lumbung-Praxis ständig herunterbrechen auf den lokalen Kontext und unsere Bedürfnisse darin.
MA Als Beispiel: Eine der ersten Aufgaben, die wir angegangen sind, war das „ruruHaus“ als Wohnzimmer von Kassel einzurichten, um die Stadt besser kennenzulernen. Reza und Iswanto leben seit dem vergangenen Jahr hier. Wir besuchen Initiativen, Cafés, Buchläden, um herauszufinden, ob wir gemeinsam arbeiten können, nicht unbedingt im Kunstbereich, aber vielleicht bei der Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse.
Die Künstlerliste der documenta fifteen haben Sie zuerst im Kasseler Straßenmagazin Asphalt publiziert. Warum dort?
Iswanto Hartono (IH) Wir sind in Indonesien mit Straßenmagazinen aufgewachsen. Sie waren damals ein wichtiges Medium des Alltagslebens.
RA Es hat wirklich mit dem täglichen Umgang zu tun. Asphalt hat sein Hauptquartier in Hannover und wird auch in Kassel und Göttingen verteilt, wirkt also in verschiedene Netzwerke hinein. Wir hatten das Gefühl, dass diese Zeitschrift bereits selbst ein lumbung ist. Außerdem haben wir uns mit den Verkäuferinnen und Verkäufern hier in Kassel angefreundet und festgestellt, dass sie ganz unterschiedliche Formen der Kommunikation haben: Es gibt einen Verkäufer, der alle Schlagzeilen singt!
Die Liste umfasst künstlerische Einzelpositionen, aber vor allem auch viele Kollektive. Welche Haltung war Ihnen bei den ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern wichtig?
RA Generell teilen wir die gleiche Philosophie. Sie denken wie wir, und viele der ausgewählten Künstlerinnen und Künstler haben auch ähnliche Praktiken. Wir müssen sie also nicht an unserem Konzept von lumbung ausrichten. Sie haben ohnehin schon ihr eigenes Verständnis von lumbung.