Die documenta fifteen im Sommer wird ein Abenteuer: Geplant wird sie vom Kollektiv ruangrupa aus Jakarta, das auf die Stärke der Gemeinschaft setzt. Ein Vorab-Interview in Kassel
Von
05.01.2022
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Erschienen in
Kunstplaner 2022
(Anm. d. Red.: Die folgende Frage bezieht sich auf den amerikanischen Künstler Jimmie Durham. Dieser verstarb kurz nach Redaktionsschluss des Artikels.)
Als weltweit bekanntester Name steht Jimmie Durham auf der Liste. Der 81-jährige Amerikaner erschafft Objekte aus Alltagsgegenständen, die er häufig mit Tierknochen kombiniert. Außerdem setzt er sich seit den Siebzigerjahren für die Rechte der indigenen Völker in den USA ein. Wie passt er ins lumbung-Konzept?
RA Viele der künstlerischen Einzelpositionen arbeiten mit ihren Praktiken zum Nutzen ihres lokalen Umfelds. Wenn wir speziell über Jimmie Durham sprechen: Bei ihm ist sicher die Methode spannend, wie er sein Wissen teilt. Die anderen Künstlerinnen und Künstler können von ihm lernen.
MA Deshalb haben wir Gruppen gebildet, die wir „mini-majelis“ nennen. Normalerweise ist es so, dass die Künstlerinnen und Künstler, die zu einer Ausstellung eingeladen werden, nicht miteinander kommunizieren. Es entsteht sogar Rivalität. Anders ist das in unseren neun mini-majelis: Hier kommen sie einmal im Monat zusammen, um zu diskutieren und sich über ihre Pläne austauschen. Außerdem verwalten sie gemeinsam ein Gruppenbudget, das sie zusätzlich zu ihrem individuellen seed money für Projekte nutzen können.
Kann in den mini-majelis gemeinsame Kunst entstehen?
RA Absolut! Wir haben wenig Einfluss darauf, was in den Versammlungen passiert, und sind oft selbst überrascht. Plötzlich hat eine der mini-majelis schon ihre eigene Whatsapp-Gruppe – wir wussten nichts davon! Oder wir werden kritisiert. Auch das kommt vor, und wir haben Spaß daran, wenn sie unser Handeln bewerten. Wir sind ja keine Kuratoren im eigentlichen Sinne.
MA Niemand von uns hat Kunstgeschichte studiert! Und das ist die Grundvoraussetzung, um in Europa als Kurator zu arbeiten. Mindestens einen Magister-Abschluss sollte es sein. Besser noch einen Doktortitel.
Mirwan Andan verlässt das Gespräch für eine Zoom-Konferenz, Indra Ameng kommt hinzu.
Sie haben Künstlerkollektive aus der ganzen Welt eingeladen, die in ihrer Heimat stark mit ihrem lokalen Umfeld arbeiten. Wie können diese Gruppen ihre Arbeitsweise nach Kassel übertragen? Und was werden sie von der documenta wieder zurück mitnehmen?
RA Genau diese Fragen haben wir den Künstlerinnen und Künstlern auch gestellt. Wir zeigen ihnen keinen idealen Weg auf, wie sie etwas von hier mitnehmen können. Es ist allein ihre Sache, solange ihre Pläne im Einklang mit der Situation hier in Kassel sind, sind wir einverstanden. Manchmal geht es einfach nur darum, die auf der documenta erworbenen Erfahrungen weiterzugeben oder andere Akteure einzubinden. Wir stellen die Frage: „Wärt ihr bereit, Wissen und Überschuss, die ihr im documenta-lumbung erworben habt, mit anderen lumbungs zu teilen?“
Wie kann das konkret aussehen?
RA Nehmen wir das Kollektiv Britto Arts Trust: Die beschäftigen sich in Dhaka mit dem soziopolitischen Umbruch in Bangladesch und arbeiten dort schon heute mit Malern von Rikschaverzierungen zusammen. Das gehört einfach zu ihrer Praxis. Oder das Kollektiv Taring Padi aus Yogyakarta, mit dem wir schon seit Studienzeiten befreundet sind, macht in Deutschland bereits jetzt Workshops zu ihren Puppenfiguren aus Kartonpappe und zur Gegenkultur im indonesischen Kontext. Die Mitglieder von Taring Padi leben mittlerweile rund um den Globus: Indonesien, Australien, USA, Deutschland. Indem wir sie einladen, stärken wir ihre weltweiten Verbindungen.
Im Kunstdiskurs verstehen wir unter Postkolonialismus die Kritik und gleichzeitige Ablösung der immer noch sehr mächtigen eurozentrischen Sichtweise. Dafür werden zuvor an den Rand gedrängte Perspektiven zum neuen Zentrum. Ist das nun die erste wirklich postkoloniale documenta?
IH Indonesien ist 350 Jahre lang von den Niederländern kolonisiert worden und beschäftigt sich seit der Unabhängigkeit mit den Folgen. Das Nachdenken darüber ist ein ganz organischer Teil unseres Lebens, etwa wenn wir Überlegungen zu Modellen des gemeinschaftlichen Teilens anstellen, die das Ungleichgewicht zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten überwinden können. Das bedeutet: Selbst wenn wir das Thema Postkolonialismus vielleicht nicht immer dezidiert ansprechen, spielt es doch – neben anderen Themen – bei dieser documenta eine wichtige Rolle.
Man hat das Gefühl, immer mehr Menschen arbeiten mittlerweile an der documenta fifteen mit. Sind Sie glücklich damit, wenn Sie die Kontrolle komplett verlieren?
Indra Ameng Wir haben eine Neigung dazu, das zu tun.
RA Ich denke, an einem bestimmten Punkt ist das bereits geschehen. (lacht)