Martin Guesnet ist der Europa-Direktor des französischen Auktionshauses Artcurial. Wir sprachen mit ihm über den umkämpften deutschen Markt, die neue Rolle von Paris und die Wirkung der Russland-Sanktionen
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27.12.2022
Es geht dynamisch weiter, auf einem hohen Level. Es gibt nirgends Anzeichen für einen Crash, selbst im Oldtimermarkt nicht, der am sensibelsten auf negative Veränderungen reagiert. Unsere letzten Auktionen liefen mit über 80 Prozent verkauften Autos, was außergewöhnlich ist. Also der Appetit ist groß. Das haben wir auch bei den letzten Kunstmessen und -auktionen gesehen. Ich will keine Werbung für Mitbewerber machen, aber Christie’s verkaufte Mitte Oktober in einer Auktion für 75 Millionen zeitgenössische Kunst – das war früher nur in London oder New York möglich, und jetzt passiert es auch in Paris.
Dercon hat hier eine Revolution ausgelöst. Weil es ihm gelang, die FIAC abzulösen.
Ja, denn er hat die Chance genutzt, neu auszuschreiben. Der Vertrag der Kunstmesse FIAC lief aus, und Dercon sagte: Warum sollte die Art Basel sich nicht bewerben? Unvorstellbar in der französischen Kunstwelt! Das hätte niemand anderer gewagt. Und jetzt, wo Dercon die Paris+ geholt und die Renovierung des Grand Palais organisiert hat, da tritt er erstaunlicherweise schon wieder ab. Na ja, die Fondation Cartier weist man nicht zurück. Das ist einer der tollsten Posten hier. Sie wissen doch, Le Louvre des Antiquaires mit seinen 40.000 Quadratmetern, dieses geschlossene Riesenteil gegenüber des Louvre – das wird die nächste Fondation Cartier! Kaum 100 Meter von Pinault, kaum 500 vom Centre Pompidou. Prima Sache. Das Zentrum von Paris verwandelt sich in den nächsten drei Jahren sehr.
Wenn wir zurückschauen: Artcurial ist durch Nischenmärkte bekannt geworden. Wir haben die Nische groß gemacht. Mit den Comics fing es an, dann kamen Street-Artists, dann Hermès-Handtaschen, Turnschuhe, Mode, Koffer. 2018 folgte ein One-off-Sale mit der Marke Supreme. Das sind Märkte, die vor 20 Jahren inexistent waren. Damals waren die nur bei uns, jetzt sind sie bei allen.
Wir haben den Street-Art-Markt weiterentwickelt – heute Abend etwa findet bei uns die Auktion Generation 21 statt. Das zeigt unseren Willen, weiterzusuchen. Wir haben da Urban Art, afrikanische Zeitgenossen und Emerging Artists gebündelt, um die Künstler des 21. Jahrhunderts zu einem gemeinsamen Thema zusammenzuführen. Und durch die Versteigerung der Ausstattung des „Ritz“ sind wir 2018 zudem Experten für Hotel-Inventare geworden. Bald bringen wir das Interieur des „Hotels Bauer“ in Venedig unter den Hammer. Dann gibt’s da natürlich das große Thema NFTs: Wir fühlen uns auch auf diesem Gebiet als Vorreiter. Vor einigen Monaten hat die Stadt Cannes gefragt, ob wir nicht mithilfe unseres monegassischen Büros ihre emblematischen Sehenswürdigkeiten wie Palais des Festivals oder Croisette als NFT verkaufen wollen. Anfangs wussten wir nicht genau: Was wird da passieren? Nun sind die zehn Objekte für 360.000 Euro zugeschlagen – der Palais des Festivals wurde als NFT für Meta-Werbung verkauft – nicht nur gegen Bitcoins, sondern für 60.000 Euro. Cannes erlaubt dem Ersteigerer jetzt sein eigenes Festival im Metaversum. Das ist superinteressant. Und ebenso wie wir Nischen finden, bauen wir übrigens Monaco seit 20 Jahren als Handelsplatz auf.
Monaco ist heute ein so wichtiger Umschlagplatz, weil das Fürstentum den politischen Willen dazu hat. Hauser & Wirth hat eine Galerie dort eröffnet, die Art Genève inszeniert im Sommer die sehr schöne kleine Messe Art Monte Carlo, und wir sind seit 20 Jahren mit Auktionen investiert. Neben Autos und Uhren wollen wir bald mehr Kunst dort anbieten.
2019 gingen wir dann im Winter erstmals nach Marrakesch. Allerdings blieb, während wir in Paris weniger als erwartet an der Pandemie gelitten haben, die Filiale Marrakesch zwei Jahre von der Welt abgeschnitten. Da wurden wir leider etwas auf der Startbahn festgehalten. Aber nun geht es dort wieder los. Es ist auch rentabel, weil die Unkosten viel geringer sind.
Man kann sagen: Die haben uns in der Pandemie gerettet. Ein aktuelles Beispiel: Bei dem William-Burke-Sale mit Pop-Art-Klassikern neulich, da kam über die Hälfte der Gebote als live bids herein, über Internet. Es sind zwar immer ein paar Kunden präsent – was wichtig ist. Denn unser Businessmodell bleibt die Live-Auktion. Aber ob die Show jetzt vor Kunden physisch stattfindet oder mit Kameras live in den Computer geht, das ist egal. Unsere Auktionatoren kitzeln hier wie da die guten Gebote der Kunden heraus.
Besonders François Pinault hat – als Eigentümer von Christie’s – ja sehr gute eigene Möglichkeiten zum Erwerb von Kunstwerken. Aber wenn ihn etwas interessiert, sucht er selbstverständlich den Kontakt zu uns, und Bernard Arnault ebenso.
Alle Departement-Chefs sind selbst finanziell engagiert – eine Besonderheit bei Artcurial.
Von außen besehen ist die Struktur unserer Departements mit Direktor und Administration ähnlich wie bei der angelsächsischen Konkurrenz. Aber intern ist sie ganz anders. Man kann es mit einem Kaufhaus vergleichen, das eigenständige Labels oder Läden hat. Unter dem Dach Artcurial haben wir circa zwanzig kleinere Unternehmen, die sich quasi selbstständig verwalten – Automobile, Alte Meister, Kunst des 20. Jahrhunderts, Möbel, Objets d’art, Couture, Islamische Kunst und so weiter. Es gibt Regeln, die wir vorgeben. Aber keine große Top-down-Struktur. Jedes Departement macht Budgets und Rentabilitätsabrechnungen selbst. Bei den Angelsachsen gibt es Gehalt plus Boni. Bei uns sind Departements direkt prozentual am Ergebnis beteiligt.