Interview mit Erwin Wurm

„Kleidung ist die zweite Haut“

Das Zusammenspiel des Menschen mit banalen Alltagsobjekten inspiriert Erwin Wurm. Österreichs berühmtester Künstler sprach mit uns über Bodyshaming, seine beengte Kindheit und Kleidungstücke als skulpturales Phänomen

Von Lisa Zeitz
30.01.2023

Ganz ehrlich, ich weiß es auch nicht. Es hat sich so ergeben. Ich habe ein paar Skulpturen mit Köpfen und Gesichtern gemacht, das hat mich aber gestört. Ich will in meinen Skulpturen etwas über den Menschen sagen, nicht über eine einzelne Person. Das gelingt am besten ohne Gesichter. Ich habe viele Skulpturen gemacht, bei denen die Leute nur aus Kleidungsstücken bestehen. Die zweite Haut ist das Kleidungsstück – und das Haus wäre dann die dritte.

Kleidung spielt in Ihrer Kunst immer wieder eine Rolle.

Wenn man in der Geschichte der Bildhauerei diese schönen griechischen oder römischen Bronzen betrachtet, etwa eine Figur des Herkules oder der Venus, dann wirken sie mächtig, aber in Wahrheit bestehen sie nur aus einer ganz dünnen Schicht Bronze. Das ist nur eine Haut, die in unseren Köpfen Volumen und Masse erzeugt. So kam ich zu den Kleidungsstücken. Kleidung ist nicht nur ein Stück Stoff, mit dem wir uns vor Wetter und Unbill schützen, sondern wir definieren uns damit. Mode und Kleidung sind ein wesentlicher Teil unseres Leben, egal ob konservativ, modern oder ausgeflippt.

Steht die Kleidung mit Ihren berühmten „One Minute Sculptures“ in Zusammenhang?

Erwin Wurm Atelier
Der Künstler Erwin Wurm im Atelier in Limberg bei Wien. © Michael Wurm

Ganz ehrlich, ich weiß es auch nicht. Es hat sich so ergeben. Ich habe ein paar Skulpturen mit Köpfen und Gesichtern gemacht, das hat mich aber gestört. Ich will in meinen Skulpturen etwas über den Menschen sagen, nicht über eine einzelne Person. Das gelingt am besten ohne Gesichter. Ich habe viele Skulpturen gemacht, bei denen die Leute nur aus Kleidungsstücken bestehen. Die zweite Haut ist das Kleidungsstück – und das Haus wäre dann die dritte.

Kleidung spielt in Ihrer Kunst immer wieder eine Rolle.

Wenn man in der Geschichte der Bildhauerei diese schönen griechischen oder römischen Bronzen betrachtet, etwa eine Figur des Herkules oder der Venus, dann wirken sie mächtig, aber in Wahrheit bestehen sie nur aus einer ganz dünnen Schicht Bronze. Das ist nur eine Haut, die in unseren Köpfen Volumen und Masse erzeugt. So kam ich zu den Kleidungsstücken. Kleidung ist nicht nur ein Stück Stoff, mit dem wir uns vor Wetter und Unbill schützen, sondern wir definieren uns damit. Mode und Kleidung sind ein wesentlicher Teil unseres Leben, egal ob konservativ, modern oder ausgeflippt.

Steht die Kleidung mit Ihren berühmten „One Minute Sculptures“ in Zusammenhang?

Erwin Wurm Stephansdom
Der riesige Strickpullover hing 2020 im Wiener Stephansdom. © Nelo Ruber /VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Ja, die Kleidungsstücke haben mir geholfen, quasi auf die Fährte zu kommen. Zu Beginn der Neunzigerjahre habe ich zum Beispiel Pullis auf zwei Nägel gehängt, aber mit einer bestimmten Anleitung. Nach einem Monat konnte man sie wieder abnehmen und als Pulli verwenden. Da kam die Kurzlebigkeit zum ersten Mal auf. Die Arbeiten dauerten so lange wie die Ausstellung, einen Monat oder zwei Wochen. Dieser Aspekt hat mir wahnsinnig gut gefallen. Wir leben in einer extrem kurzlebigen Zeit. Alles wird weggeworfen, nichts wird mehr repariert, alles muss sofort neu sein. Für die rasante Kurzlebigkeit wollte ich ein Äquivalent in der Skulptur finden. So habe ich begonnen, mit Alltagsgegen ständen zu arbeiten, weil ich darauf kam, dass ich alles, was mich umgibt, als Ausgangspunkt für ein Kunstwerk verwenden kann, egal ob Tisch, Stuhl, eine Hose oder ein Auto. Ein Mensch, der mit banalen Dingen wie einem Besen oder Orangen eine Performance aufführt – das habe ich „One Minute Sculpture“ genannt, als Synonym für kurz. Es kann zwei Minuten dauern oder zehn Sekunden. Erstaunlicherweise ist das schon 25 Jahre her, und sie sind heute noch genauso gefragt. Nächstes Jahr mache ich eine Riesenausstellung im Tel Aviv Museum of Art ausschließlich damit, was mich wahnsinnig freut.

Im Stephansdom war einmal ein 80 Quadratmeter großer Pullover ausgestellt wie ein Fastentuch. Jetzt wird ein Torso mit Hose, Hemd und Jackett in der Königlichen Porzellan-Manufaktur in Berlin zu einer Edition.

Man hat das Gefühl, das ist eine Figur, ein Mensch. Es ist aber niemand drinnen, sondern es ist nur der Anzug. Eine Hand scheint in der Hosentasche zu stecken, aber es gibt keine Hand, die Hosentasche ist nur so ausgebeult.

Das muss ein surrealer Anblick sein, wenn aus dem weißen Porzellantorso anstatt des Kopfes Blumen aus dem Jackett herausragen.

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