Interview mit Erwin Wurm

„Kleidung ist die zweite Haut“

Das Zusammenspiel des Menschen mit banalen Alltagsobjekten inspiriert Erwin Wurm. Österreichs berühmtester Künstler sprach mit uns über Bodyshaming, seine beengte Kindheit und Kleidungstücke als skulpturales Phänomen

Von Lisa Zeitz
30.01.2023

Ja, die Idee gefällt mir gut. Das Porzellan ist super, schön glasiert und schaut perfekt aus.

In welcher Auflage wird die Vase produziert?

Relativ groß. Wir wollten, dass es günstig bleibt. Es gibt ja viele junge Leute, die an Kunst interessiert sind. Mir ist es ganz wichtig, dass sie auch mit Kunst leben können, daher ist es toll, solche Editionen zu machen.

Das Vasenobjekt ist ein Beispiel dafür, dass in Ihrer Kunst die Herrenbekleidung überwiegt, liegt das daran, dass sie uniformhafter ist?

Ja, vollkommen richtig. In der Businesswelt und Politik, da tragen die Männer und oft auch die Frauen Anzüge, in der Tat eine trostlos langweilige Uniform. Mich interessiert diese Uniformierung, die Individualität auslöscht. Auch in meiner Arbeit interessiert mich nicht die Individualität, sondern das Bild des Menschen im Allgemeinen.

Vorhin haben Sie gesagt, in Ihrer Kindheit habe Bodyshaming eine Rolle gespielt. Gibt es da eine Verbindung zu Ihren „Fat Sculptures“?

Erwin Wurm Kastenmann
Kleidung taucht immer wieder in Erwin Wurms Werken auf. Den „Kastenmann“ schuf Erwin Wurm 2008. © Studio Erwin Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die haben mit Bodyshaming nichts zu tun. Es kommt von dem Interesse am Prinzip des Bildhauerischen. Was ist das überhaupt? Es geht vom Zwei- zum Dreidimensionalen. Es geht um Haut, Hülle, Masse, Volumen. Mir war immer wichtig, dass ich eine Verbindung zum Hier und Jetzt herstelle, so begann ich mich für Themen zu interessieren, die mit unserem Alltag und mit unserem Leben zu tun haben. Wenn ich eine Schicht trage, einen Pulli oder ein Hemd, ist alles ganz normal. Wenn ich aber zehn Hemden anziehe und zwanzig Pullis übereinander, dann verändert man sich. Durch die Multiplikation eines sozusagen zweidimensionalen Kleidungsstücks entsteht plötzlich Masse, und man wird voluminös, skulptural. Man schaut auch dicker aus, es entsteht ein anderer Status. Wenn ich etwas in Ton modelliere, dann gebe ich Ton dazu oder nehme Ton weg. So funktioniert das Prinzip des Modellierens, durch eine Zunahme oder Wegnahme des Volumens. Ich kam zu dem Schluss, dass Zu- und Abnehmen sozusagen eine bildhauerische Arbeit ist. So kann man die Welt anders anschauen.

In manchen Kreisen wird eine korpulente Figur immer noch „mächtig“ genannt.

In alter Zeit waren die wichtigen Männer „mächtig“, denn sie hatten gute Nahrungsmittel, während der Großteil der Bevölkerung abgemagert und hungrig war, die Dünnen, die Leidenden, die von Arbeit Ausgemergelten. Die Mächtigen mussten nicht arbeiten, die konnten nur fressen. Irgendwann in der Geschichte ist das gekippt. Plötzlich kam man drauf, dass man mit Work-outs und Diät eine höhere Lebensqualität hat. Schlankheit und Fett haben eine neue soziale Bedeutung bekommen. Nächstes Jahr habe ich eine große Ausstellung im Yorkshire Sculpture Park in der Nähe von Manchester. Meine „Fat Houses“ und „Fat Cars“ sollen dort aber nicht ausgestellt werden, weil ein großer Teil der Bevölkerung „obese“ sei und ein dickes Auto und ein dickes Haus als beleidigend empfinden würde.

Erwin Wurm Fat Convertible
Erwin Wurms „Fat Convertible“, 2017 in Duisburg. © Erwin Wurm; Studio Erwin Wurm/Galerie Thaddaeus Ropac / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Passiert so etwas öfter?

In jeder Gesellschaft gibt es Beschränkungen. In Amerika durfte ich das „Narrow House“ nicht ausstellen, weil niemand mit einem Rollstuhl hineinkann. Vor zwei Jahren hatte ich eine Ausstellung in Rom, da durfte ich keine Gurken und keine Wurst-Skulpturen zeigen, weil es hieß, das sei eine Beleidigung für die Männer, ein Schimpfwort. Gurken erinnern fatal an ein männliches Körperteil, ebenso wie Würste. Über die Männlichkeit mache ich mich ganz offen lustig. Die Männer haben die Welt mit ihrer toxischen Männlichkeit und mit ihrem Ego in den Abgrund geführt. So ist das ganze Drama, in dem wir uns befinden, entstanden. Ich hoffe, es gelingt uns mit der Hilfe der anderen Menschen, die nicht Männer sind, dass wir da rauskommen. Im Moment sieht es nicht gut aus.

Die Marmorwürste und Marmorsemmeln wirken körperlich wie antike Skulpturen.

Sie heißen Idole und sind eine Form von Abstraktion, aber in gewisser Weise auch Figuren, weil sie aufrecht stehen. Ich habe ein bisschen mit der Vorstellung gespielt, dass frühe Skulpturen mit den ersten menschlichen Darstellungen oft sehr abstrahiert sind, sodass man den Menschen nicht sieht, sondern ein Ding, das halt aufrecht steht. Ich versuche, da Parallelitäten zu erzeugen. Alle diese Gurken, Würste, Semmeln haben aber auch mit dem Würstelstand zu tun, der in Österreich eine Tradition wie die Kaffeehäuser hat, nur wurden dort eben Würste auf der Straße an die arme Bevölkerung verkauft. Am Würstelstand treffen sich am Abend sehr bestimmte Menschen, oft alte Männer in meinem Alter und älter, die eine ganz bestimmte Vorstellung von Welt haben, die sehr traditionell ist. Daher habe ich Wurst und Gurke und Semmel gemacht, weil sie das toxisch Männliche unterstreichen.

Trotzdem wirken die Objekte auch humorvoll. Ist Humor für Sie ein Vehikel, mit dem Sie die Leute packen können?

Ja, Humor … Ich nenne es lieber das Paradoxe oder Absurde. Es ist ja kein Witz, den man erzählt, damit die Leute lachen können, sondern ich möchte schon berühren. Es schwingen viele Ebenen mit. Eine davon kann der Humor sein.

Zur Startseite