In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 6: Georgia O’Keeffe und die Momente des Staunens
ShareGeorgia O’Keeffe wurde 1887 in einem kleinen Dorf in Wisconsin geboren, wo ihre Eltern eine Molkerei betrieben. Schon als junges Mädchen wollte sie malen und begann mit 19 erst an der Kunsthochschule des Art Institute of Chicago und dann an der Art Students League in New York zu studieren. Dort besuchte sie auch die Galerie 291 des Fotografen und Kunstsammlers Alfred Stieglitz auf der Fifth Avenue, den zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich avantgardistischsten Ort Amerikas, wo sie zum ersten Mal mit Zeichnungen von Rodin und Gemälden von Matisse in Berührung kam. Weitere Kurse führten sie an die University of Virginia in Charlottesville und das Teachers College der Columbia University in New York, wo sie Lehrer wie Alon Bement und Arthur Dow mit der Ästhetik japanischer Farbholzschnitte bekannt machten. O’Keeffe arbeitete als Illustratorin in einer Werbeagentur, um sich ihr Studium zu finanzieren, und zog schließlich nach Texas, wo sie eine Stelle als Direktorin des Kunstinstituts eines kleinen Colleges annahm.
In Texas verliebte sich die Malerin zum ersten Mal in jene karge Landschaft des amerikanischen Südwestens, in ihre Leere und Einsamkeit, ihren staubigen Wind, ihre ondulierenden Formen und farbintensiven Sonnenuntergänge. Die Landschaft schien sich auch in ihren ersten eigenständigen Arbeiten niederzuschlagen, abstrakte Kohlezeichnungen, die von wellenartigen Formen geprägt waren, einem charakteristischen Spiel von Licht und Abstraktion. Ihrer Freundin Anita Pollitzer, die sie in New York kennengelernt hatte, gestand sie ihre Hoffnung, dass diese Arbeiten Alfred Stieglitz gefallen würden. Anfang 1916 brachte Pollitzer eine Auswahl der Zeichnungen in dessen Galerie. Einige Monate später stellte Stieglitz O’Keeffe zum ersten Mal aus. Zwei Jahre später bat er sie, nach New York zurückzuziehen und mit ihm zusammenzuleben. Sechs Jahr später ließ sich der 24 Jahre ältere Mann scheiden und heiratete die junge Malerin.
Die Beziehung zwischen O’Keeffe und Stieglitz hielt bis zu dessen Tod im Jahr 1946. Durch Stieglitz gewann die Malerin Anschluss an eine Kunstwelt, die ihr ohne ihn schlicht verschlossen geblieben wäre. Doch in gewisser Hinsicht schien die Beziehung für Stieglitz noch bedeutender zu sein als für O’Keeffe. Nach ihrem Kennenlernen begann die produktivste Zeit seines Lebens. Er fotografierte seine Partnerin geradezu obsessiv. Die über 350 Motive, die die Künstlerin zeigen, bilden bis heute eine der bedeutendsten Werkgruppen des Fotografen. Stieglitz stellte O’Keeffe auch in seinen späteren Galerien aus, The Intimate Gallery und An American Place, und sorgte dafür, dass sie schon als junge Frau berühmt wurde. Unter anderem durch seine Vermittlung kosteten ihre Bilder bald so viel, dass sie reich damit wurde. Rechnete man die damaligen Preise ihrer Werke in heutige Dollar um, hätten diese sie zur Millionärin gemacht. Besonders die Blumenbilder, die sie ab Mitte der 1920er-Jahre malte, brachten ihr hohe Summen ein. Doch Stieglitz war es auch, der für eine Interpretation dieser Arbeiten sorgte, die zu O’Keeffes Unmut die Rezeption ihres gesamten Werks einfärbte.
Tatsächlich waren die Bilder vergrößerter Blüten ein Politikum und sind es in mancher Hinsicht auch heute noch. Nicht nur wegen des originären Stils O’Keeffes, mit dem sie die Figuration durch die Werkzeuge der Abstraktion neu belebte. Sondern auch, weil diese Bilder ein vertrautes Genre zitierten, es aber zugleich auch unterminierten und dabei neu deuteten. Die Kunstgeschichte war jahrhundertelang relativ strikt unterteilt gewesen: Männer durften alles malen, vor allem den weiblichen Körper, Frauen hingegen, wenn überhaupt, Blumen. Diesen dem Malen von Pflanzen innewohnenden Sexismus konnten nur wenige Künstlerinnen umdeuten – die niederländische Barockmalerin Rachel Ruysch etwa, die die wahrscheinlich prachtvollsten Blumenbouquets der Kunstgeschichte schuf, oder Maria Sibylla Merian, deren Aquarelle und Kupferstiche in einer Zeit, in der nach der gängigen „Malerordnung“ nur Männer mit Ölfarbe und Leinwand malen durften, eine hohe Ästhetizität mit einem genauen, forschenden Blick auf vegetale Morphologie verbanden.
Für ihre Blumenbilder inszenierte O’Keeffe einzelne Blüten, als wären sie Wolkenkratzer. Auf mittelgroßen und großformatigen Leinwänden stellte sie sie so vergrößert dar, dass sich die Betrachtenden sicher sein konnten, so noch nie eine Blume gesehen zu haben. Sie gab sich der genauen Beobachtung variierender Licht- und Farbverläufe hin, die sie trotz abstrahierender Tendenzen mit größter Akkuratesse wiedergab. Konzentriert sezierte sie die Genetik natürlicher Linien, Formen und Wölbungen in den Kron- und Blütenblättern, den Staubbeuteln, Stempeln und Fruchtknoten der Pflanzen. Und sie lud sie mit jener unheimlichen Kraft auf, der sich nur wenige Betrachtende entziehen können. O’Keeffe wollte die Blumen so malen, dass die Betrachtenden sie mit neuen Augen sehen konnten – mit den Augen, mit denen sie sie sah. Bei jedem dieser Bilder wird spürbar, dass die Malerin die einzelnen Blüten stunden- und tagelang angeschaut hatte, dass sie etwas an ihnen verstand, das eigentlich nicht verstehbar ist.