In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 6: Georgia O’Keeffe und die Momente des Staunens
ShareStieglitz, vielleicht auch aufgrund seiner eigenen sexuellen Obsession mit O’Keeffe, wies als Erster auf die geschlechtlichen Konnotationen hin, die man diesen Blüten geben kann, wenn man es will. Mithilfe des Vokabulars der noch recht jungen Psychoanalyse machte er auf vulvaartige und phallische Formen in ihnen aufmerksam. Es war ein brillanter Marketingschachzug, der nicht zuletzt auch die verstörende Kraft zum Ausdruck brachte, die den Bilder innewohnt. Zahlreiche Kunstkritiker der Zeit griffen seine Interpretation auf und diskutierten O’Keeffes Werk vor allem in freudianischer Perspektive, zumeist mit einem ausgeprägten Machismo. Die sexuelle Interpretation zog die Kunstkritik magisch an und stieß sie zugleich auch ab. Auf ähnliche Weise interpretierten die amerikanischen Feministinnen der 1960er- und 1970er-Jahre und Künstlerinnen wie Judy Chicago das Werk der Malerin. Anstatt mit misogyner Abwehr reagierten sie allerdings mit Gefühlen der Identifikation, Befreiung und Selbstermächtigung auf diese Formen. Je älter sie wurde, desto mehr entrüsteten solche Interpretationen O’Keeffe – so sehr, dass sie sogar von ihren feministischen Befürworterinnen Abstand nahm, obwohl sie dreißig Jahre lang Mitglied der National Woman’s Party war.
Je älter ihre Blumenbilder werden, desto besser kann ich O’Keeffe verstehen. Es ist nicht so, dass diese psychoanalytischen Interpretationen keine Validität besäßen – schließlich handelt es sich bei allen Blüten ganz konkret um vegetale Fortpflanzungsorgane. Vielmehr waren diese Interpretationen höchst reduktionistisch, so reduktionistisch, dass sie den Kern dieser Bilder verkannten und ihre ureigene Widerständigkeit überschrieben, die sich jeder Form von Deutung widersetzte. O’Keeffe wollte, dass ihre Bilder die Betrachtenden dazu brachten, diese Blüten genauer und länger anzuschauen, als sie es jemals zuvor gemacht hatten. Sie war nicht an ihren von Erregung und Abwehr geprägten Assoziationen interessiert. Stattdessen ging es ihr um die Blumen selbst, um ihre geheimnisvollen Farben, Formen und Texturen, um ihr Wunder – um das Wunder der natürlichen Welt.
Als Georgia O’Keeffe im Sommer 1929 zusammen mit einer Freundin zum ersten Mal nach Taos in New Mexico reiste, war die leidenschaftliche Beziehung zwischen ihr und Stieglitz schon abgekühlt. Sie führten eine offene Ehe, allerdings machte vor allem Stieglitz von dieser Offenheit Gebrauch. Obwohl allein die Reise in diese Gegend Amerikas beschwerlich war und mehrere Tage dauerte, sollte sie bis zum Tod ihres Mannes jeden Sommer in der Wüste New Mexicos verbringen und dort mehr und mehr Fuß fassen. Sie kaufte sich zuerst ein Haus in einem kleinen Dorf namens Abiquiú, etwa 150 Kilometer südlich von Santa Fe, und schließlich ein nahe gelegenes Anwesen namens Ghost Ranch. 1949, nachdem sie den Estate und die ausufernde Kunstsammlung von Stieglitz unter sechs großen amerikanischen Museen aufgeteilt hatte, unter ihnen das Metropolitan Museum in New York und das Art Institute of Chicago, siedelte sie vollständig nach New Mexico über und richtete sich in der harschen Einsamkeit der oft brütend heißen Wüstenlandschaft ein. Diese wurde mehr und mehr zur Hauptakteurin ihrer Bilder. Sie lernte, Auto zu fahren, entwickelte einen persönlichen Einrichtungs- und Kleidungsstil, der Modemachende bis heute fasziniert, malte, bis sie in hohem Alter immer mehr erblindete – und erfand sich als jene charakterstarke Wüsten-Hohepriesterin neu, die so triviale Dinge wie Alter, Geschlecht, die Kunstwelt und das Patriarchat schon lange hinter sich gelassen hatte.
Wenn O’Keeffe den Kunsthistorikerinnen und Journalisten, die sie in New Mexico besuchten, von ihrem Leben und ihrem Werk erzählte, hatte man den Eindruck, dass sie schon als Künstlerin geboren worden sei, als eine Künstlerin mit einer fast schon übernatürlichen Beobachtungsgabe, einer außergewöhnlichen visuellen Sensibilität. Sie schien ihr Wüstenleben, weitab von New York, aufs Intensivste zu genießen. Die einzige Beziehung, der sie zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens große Bedeutung beimaß, war die zur Natur. Man kann diese Selbstmythologisierung unglaubwürdig finden, doch sie sprach eine Wahrheit ihres malerischen Werkes an, die unumstößlich war. Sie unterhielt tatsächlich eine besondere Beziehung zur natürlichen Welt, und jedes ihrer Bilder ist zutiefst von dieser Beziehung geprägt.
Vielleicht kamen mir auch deshalb die Tränen in O’Keeffes Ausstellung in Basel, vielleicht fühlte ich mich auch deshalb so, als würde sich von nun an mein Leben verändern, als ich im Whitney Museum zum ersten Mal ein Gemälde von ihr sah. In gewisser Hinsicht sind alle ihre Arbeiten Dokumente der Ehrfurcht. Sie transportieren eine beinahe schon sprituelle Einsicht in unser In-der-Welt-Sein, in unsere Verankerung im natürlichen Leben. Ihre Werke sind fast immer von einem Gefühl der Transzendenz geprägt, von einem Staunen, das man auch empfindet, wenn man vor der Weite des Meeres steht oder sich in einer erhabenen Berglandschaft befindet. Man versteht anders, dass man ein kleiner Teil eines großen Ganzen ist, versteht es überhaupt. O’Keeffes Werke scheinen direkt auf unsere innere Ökologie abzuzielen. Ihre Arbeiten machen nichts Geringeres als das Wunder unserer natürlichen Welt spürbar – das unfassbare Wunder, ein Teil dieser Welt zu sein.