Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts stand Schlange, um sich von Rosalba Carriera in Pastell porträtieren zu lassen. Jetzt feiert eine Schau in Dresden die Malerin
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02.06.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 213
Der 25. November 1720 war ein Montag. Also ein normaler Arbeitstag. Aber auch den hielt Rosalba Carriera in ihrem Tagebuch fest, dem „Journal“, das der Kunstschriftsteller Alfred Sensier gut 140 Jahre später ins Französische übersetzte. „Der Regent kam unangemeldet zu mir. Wir sprachen mehr als eine halbe Stunde miteinander, während ich an einem Pastell saß. In seiner Begleitung befanden sich der Marquis de Bullion und andere. Nach dem Diner kam Madame de la Carte.“ Ebenso gut hätte Carriera erzählen können, dass sie am Abend mit ihren Schwestern ins Theater gegangen sei. Und genau das tat sie dann auch: „Le soir j’allai avec mes sœurs à la comédie.“ Der Besuch des Herzogs von Orléans (der für den noch minderjährigen Ludwig XV. die Regierungsgeschäfte führte). Seine Begleiter. Die Kundin, die nach ihnen erschien. Das Theater abends. Alles da, alles gleich viel wert, alles staubtrocken und ungerührt geschildert von einer Frau, über die man eines mit Gewissheit sagen konnte: Von Prominenz ließ sie sich nicht beeindrucken.
Vielleicht, weil sie selbst prominent war. Die berühmteste Künstlerin ihrer Zeit – und der Begriff müsste im Grunde gegendert werden, denn dieser Superlativ schließt ihre männlichen Kollegen ein. Ihr ganzes Leben lang verließ sie ihre Heimatstadt Venedig nur drei Mal. Für eine Reise nach Verona, eine nach Wien und für anderthalb Jahre in Paris. Ihr Aufenthalt dort geriet zu einem nicht enden wollenden Triumph. Tag für Tag bildeten sich vor ihrem Atelier Trauben von auffallend gut gekleideten Damen und Herren, die in der Hoffnung gekommen waren, von ihr gemalt zu werden.
„Rosalba Carriera hatte damals eine ganze neue Kunstform erfunden, die Pastellmalerei“, sagt Roland Enke, Konservator an der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Enke gehört zu dem Kuratorenteam, das in diesem Frühsommer die größte Carriera-Ausstellung organisiert, die es seit sehr, sehr langer Zeit gegeben hat. Denn die Werke der Künstlerin hatten nicht nur Hochkonjunktur. Ihre Bilder erfuhren danach auch derart überwältigende Ablehnung, dass die Museen nichts Dringenderes zu tun hatten, als sie billig zu verscherbeln. Alfred Sensier, der sich eigentlich einen Namen als Unterstützer der Pleinairmalerei von Barbizon gemacht hatte, war die Ausnahme: Im 19. Jahrhundert interessierte sich niemand für Rosalba Carriera.
Den äußeren Anlass für die Dresdner Ausstellung liefert der 350. Geburtstag der Künstlerin. Viel mehr geht es aber um eine historische Neubewertung ihrer Kunst, sagt der Kurator Enke: „Rosalba Carriera hat einen ganz neuen Typus Frau in die Kunstgeschichte eingeführt: selbstbewusst, sich ihrer Wirkung auf andere im Klaren, herausfordernd und fast ein bisschen keck.“ Und das galt auch für das andere Geschlecht, zumindest manchmal. Oder wie sollte man sich einen Mann wie den „Türken“ sonst erklären, in dem losen Seidengewand, mit seinen wasserblauen Augen, sinnlichen Lippen, rüschiger Feder am Turban und Mokkatässchen in der Hand?
Rund 100 Objekte werden in der Ausstellung im Zwinger gezeigt, darunter gut 70 Gemälde von Carriera, die meisten aus eigenen Beständen: August III. von Polen und Sachsen, der Sohn August des Starken, war geradezu vernarrt in ihre Kunst. 1746 richtete er im Johanneum ein Kabinett für Pastelle ein, dem er ihren Namen gab. Und die Schau will einen Eindruck vom Ort des Geschehens vermitteln: Venedig-Veduten von Canaletto und zeitgenössisches Mobiliar werden auch ausgestellt.
Die Serenissima, das war zu jener Epoche eine Mischung aus Monaco, Rom und Las Vegas. Der wirtschaftliche und politische Niedergang der einst mächtigen Republik am Mittelmeer dauerte schon seit einem Jahrhundert an. Venedig war immer noch eine lebendige Stadt. Nur hatte sich ihr Geschäftsmodell geändert. Glücksspiel und Prostitution florierten. Der Karneval dauerte sechs Monate. Angela Oberer, Autorin der neuesten Carriera-Biografie, nennt Details. Demnach lebten bereits Ende des 17. Jahrhunderts etwa 20 000 Kurtisanen in Venedig, „eine überraschend hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass dort nur 160 000 Menschen wohnten“. Die ganze Stadt war ein Bordell – und eine Spielhölle: etwa 130 Casinos existierten in der Lagune.