Holly Herndon und Mat Dryhurst sind visionäre Vordenker der Beziehung von Kunst und KI. Ein Gespräch über kreative Freiheit, dezentrale Individuen und die Geburt ihres Sohnes
Von
29.01.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 223
HH: Es gibt mehrere Ideen dahinter. Wir arbeiten schon seit Langem mit maschinell lernenden Stimmen und gelangten zu dem Punkt, wo wir eine Stimme erzeugen ließen, die so klang wie ich, und mit der andere Menschen performen, also singen können. Wenn man an einen solchen technologischen Durchbruch gelangt, dann denkt man: Oh mein Gott, das hat so weitreichende Implikationen! Wenn jemand mit der Stimme von jemand anderem singen kann, was bedeutet das? Welche Infrastruktur braucht man, um das für eine kreative Community praktikabel zu machen? Zunächst waren wir nur an der Idee interessiert, einen digitalen Klon mit der Technologie des maschinellen Lernens zu erschaffen. Für mich haben wir damit die Büchse der Pandora geöffnet.
MD: Für mich war das Interessanteste das Protokoll, das die Stimme steuert. Das Offensichtlichste war, dass jedermanns Stimme oder Stil oder Gesicht für jeden verfügbar sein wird. Also war die nächste Frage: Wie werden Künstlerinnen und Künstler oder überhaupt Individuen damit umgehen? Die erste Option ist, du lehnst das ab. Die zweite Option ist, über die Dezentralisierung von Individuen nachzudenken. Wenn du eine Berühmtheit bist – und in unserer Ökonomie ist im Prinzip jeder eine Berühmtheit, unfreiwillig –, ist deine Identität bereits dezentralisiert. Wenn dein Name da draußen herumschwirrt, bedeutest du Unterschiedliches für unterschiedliche Leute, das ist von dir selbst getrennt. Und so lässt sich auch deine Stimme von dir trennen. Aber du kannst ein Protokoll bauen, eine Vereinbarung, das ist für mich die Innovation. So können Leute einvernehmlich zusammenarbeiten, mit einer sogenannten „Fork“, einer separaten Version von dir. Herauszufinden, wie so eine Zusammenarbeit aussieht, ist wirklich cool, es ist seltsam, es ist anders. Jeder kann die Stimme von Holly+ nutzen, doch wir genehmigen das nur, wenn die Person, die die Stimme nutzt, zustimmt, dass das Ergebnis, das Kunstwerk, unseres wird. Es gehört sowohl uns als auch dem oder der anderen. Diese Dynamiken zu erforschen ist spannender als der magische Trick selbst, so toll er auch ist. Das Künstlerische lag für mich immer darin, herauszufinden, wie die Zusammenarbeit mit der synthetischen Version von jemand anderem funktioniert.
HH: Es ist wirklich neu. Man kann ein Archiv reanimieren. Man kann Tote reanimieren auf eine Weise. Man kann mit vergangenen und gegenwärtigen Menschen in einer Art zusammenarbeiten, die vorher nicht möglich war. Es war ein mind fuck. (lacht)
MD: Als wir vor sechs, sieben Jahren anfingen, mit KI zu arbeiten, hatten die meisten, mit denen wir gesprochen haben, eine sehr klare Idee, was das bedeutet. Es kursierten kitschige Ideen von „Metropolis“, von Robotern, die die Welt übernehmen, von „Blade Runner“ …
MD: Manches davon war prophetisch, aber was tatsächlich passiert, ist viel seltsamer. Im Vergleich dazu sind die schrägen Science-Fiction-Horrorgeschichten Trostpflaster. Aber Künstlerinnen und Künstler haben mit diesen hybriden Identitäten viel mehr Möglichkeiten.
HH: Ich liebe es! Ich habe ein unkonventionelles Verhältnis zu meiner Stimme. Ich habe meine Stimme jahrelang als Input für Computermusik genutzt und sehe sie oft als Controller, als Datenstrom, deshalb habe ich ein anderes Verhältnis zu ihr als die meisten Leute. Ich bin da recht offen, aber trotzdem hat es Zeit gebraucht, sich daran zu gewöhnen.
HH: Ich komme aus einer sehr armen Gegend in Tennessee, einem Teil der Appalachen, und Dolly ist in dem County neben meinem aufgewachsen. Sie ist der größte Star der Region, aber spielt auch als Philanthropin eine sehr große Rolle. Jedes Baby, das in Tennessee geboren wird, erhält ein Buch von ihr, sie lässt Bibliotheken bauen, hat einen Themenpark, in dem sie vielen Menschen Jobs gibt, sie ist eine Ikone, die der Gegend so viel dringend benötigte Unterstützung gebracht hat. Ich bin mit ihr als Schutzpatronin aufgewachsen. Ihre Musik ist zu heilig für mich, um sie selbst zu singen. Deshalb war es angemessener für Holly+. Ich habe mich wohler damit gefühlt, Holly+ zu erlauben, einen ihrer Songs zu covern.
MD: Wir hatten gehofft, Dolly Parton meldet sich bei uns, aber das ist noch nicht geschehen. (lacht)
HH: Der Song ist toll und sehr populär. Ich wollte, dass die Leute hören und erkennen, wie zugleich beeindruckend und unperfekt das Stimmenmodell ist. Es hatte Probleme, bestimmte Wörter richtig auszusprechen, wir hatten viel Arbeit damit, es richtig hinzukriegen. Und es gibt diese seltsamen Atempausen. Klar, eine Maschine muss nicht atmen, aber sie bildet meinen Atem nach. Es fühlte sich einfach nach dem richtigen Song an.
HH: Oh ja, es hat Spaß gemacht! Vor allem die Perücke des Hundes, ich brauche diese Perücke! Für einen bad hair day. Jemand meinte zu mir: „Du spielst auch morgen Abend mit?“ Und ich sagte: „Das war ich nicht auf der Bühne!“ Das ist das Schöne an Holly+: Ich wäre wahrscheinlich zu schüchtern gewesen, einen Hund zu spielen, aber Holly+ kann es machen.