Künstliche Intelligenz

Der Sound der Zukunft

Holly Herndon und Mat Dryhurst sind visionäre Vordenker der Beziehung von Kunst und KI. Ein Gespräch über kreative Freiheit, dezentrale Individuen und die Geburt ihres Sohnes

Von Simone Sondermann
29.01.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 223

Sie haben im Sommer im Centre Pompidou eine Videoarbeit gezeigt, „I’m Here“, die sich auf ein traumatisches Ereignis in Ihrem Leben bezieht. Dieses Werk scheint eine klassische Funktion von Kunst zu erfüllen, nämlich etwas Beängstigendes, Einschneidendes im Leben künstlerisch durchzuarbeiten und auf eine andere Ebene zu bringen, was man bei einem KI-Kunstwerk so nicht erwarten würde. Finden Sie diese Umschreibung zutreffend?

HH: Ja, obwohl es KI ist, ist es eines unserer intimsten Werke. Wir haben einen sehr intimen Moment öffentlich gemacht, das Tonmaterial dazu war sehr roh. Einen Teil des Ausgangsmaterials habe ich immer noch nicht angesehen, ich bin nicht in der Lage, es anzusehen.

Es geht dabei um die Geburt Ihres gemeinsamen Sohnes, die für Sie lebensbedrohlich war. Und Sie, Mat, haben ein Video dabei aufgenommen?

MD: Ja, es wirkt vielleicht unangemessen, so als wollten wir hier Schmerz promoten. Aber es gab eine lange Zeit, in der ich nicht wusste, ob Holly überleben würde, und ich hatte im Krankenhaus das Gefühl, ich verliere den Verstand. Ich bin ein obsessiver Dokumentarist. Ich sammle sonst nichts, aber ich behalte alle Aufnahmen, die mit der Familie zu tun haben, ich brauche ein Archiv, eine Audioaufnahme von quasi allem. Und so habe ich auch im Krankenhaus alles aufgenommen. Als ich das gemacht habe, habe ich mich gefragt: Ist das abgefuckt? Eine Stimme in meinem Kopf hat gesagt: Deine Frau kann gerade sterben, und du nimmst alles auf?

Aber ist in so einer Extremsituation nicht alles irgendwie unangemessen?

MD: Ja. Den Film zu machen war eine Art, damit klarzukommen. Ich habe für zwei Monate so gut wie nicht geschlafen.

HH: Ich konnte lange nicht mal laufen, sodass Mat sich um das Baby kümmern musste. Ich lag für mehrere Monate im Bett.

Mehrere Monate?

MD: Ja, sie hat fast ihr gesamtes Blut verloren.

Und wie geht es Ihnen jetzt?

HH: Ich bin okay. Der Körper ist wirklich verrückt. Es ging bei der Arbeit auch darum, das Erlebnis mit Freunden und mit der Familie zu teilen. Ich konnte dabei nicht zuhören, ich habe immer den Raum verlassen, wenn Mat es erzählt hat. Die Arbeit erzählt jetzt ein Stück weit, wie es sich angefühlt hat. Und es ging auch darum, einen Moment einzufangen, ich hatte im Koma einen Traum, in einem Chor zu singen, das wollten wir festhalten.

MD: Das Stück ist eine sehr seltsame Dokumentation des Erlebten geworden. Wir haben dabei viele neue Tools genutzt, um etwas zu transportieren. Es hat sich aufrichtig angefühlt, so damit umzugehen. Das Ausgangsmaterial hätten wir niemals gezeigt. Leider konnten wir nicht zur Premiere gehen, wir hatten Covid. Aber das Centre Pompidou hat es angekauft, es ist jetzt Teil ihrer Sammlung, das ist gut.

Für das Video „Jolene“ stieg der VR-Spezialist Sam Rolfes in einen Motion-Caputre-Anzug und formte die Bewegung eines Avatars, die Singstimme ist KI-generiert. © Sam Rolfes
Für das Video „Jolene“ stieg der VR-Spezialist Sam Rolfes in einen Motion-Caputre-Anzug und formte die Bewegung eines Avatars, die Singstimme ist KI-generiert. © Sam Rolfes

Sie beide arbeiten seit Langem zusammen, Sie sind seit 15 Jahren verheiratet. Was ist das Besondere daran, als Paar zusammenzuarbeiten? Wie funktioniert das?

HH: Es hat Jahre gedauert und viele Tränen gekostet, um so kommunizieren zu können, wie wir es heute können. Jetzt ist es wunderschön. Wir können family mind palace, einen Gedankenpalast, errichten, den wir gemeinsam erkunden. Wir haben eine eigene interne Sprache. Wenn wir Ideen entwickeln, nutzen wir eine Kurzschrift. Die Idee muss das Wichtigste sein, auch wenn das für uns beide eine Art Ego-Tod bedeutet. Es darf nicht darum gehen: Wer hatte die Idee? Ist da mehr von dir oder von mir drin?

MD: Es gibt ja viele Künstlerpaare. Vor 40, 50 Jahren war das alles vielleicht etwas lokaler: Du hattest dein Studio, hast an deinen Dingen gearbeitet, hast Arbeiten verschifft, warst vielleicht ein-, zweimal im Jahr verreist. Jetzt ist es so: Wenn man Erfolg hat, gibt es immer 20 Sachen gleichzeitig. Hier bist du in den Staaten, dann gibt es einen Talk, dann etwas online. Das verändert die Natur des Künstlertums. Der Künstler, die Künstlerin wird eine Marke. Im Guten wie im Schlechten. Mal widerwillig, mal freiwillig. Bei uns ist es so: Wir machen ja ähnliche Dinge. Entweder wir arbeiten zusammen, oder wir sehen uns kaum und entwickeln uns auseinander. Und Holly müsste mit jemand anderem zusammenarbeiten. Außerdem ist es billig. (lachen beide) Wir gehen offen damit um.

Wie wird Ihr Leben in zehn Jahren aussehen? Wie wird unser aller Leben aussehen?

HH: Wir werden einen elf Jahre alten Sohn haben.

MD: Er wird hoffentlich gesund sein, das ist die Nummer eins.

HH: Ach je, ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll. Zum einen, weil ich keine Prophezeiungen mag. Es ist so oft vorgekommen, dass Mat und ich etwas am Horizont gesehen haben, dass wir gesehen haben, dass sich etwas verändern wird, aber die Art und Weise, wie Menschen reagieren, haben oft dazu geführt, dass sich das Ganze dann anders entwickelt hat und wir uns gesagt haben: Oh, das haben wir nicht kommen sehen. Das ist die Schönheit im Chaos der Menschheit. Deshalb treffe ich keine Vorhersagen mehr. (lacht)

MD: Es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich wünsche mit Frieden. Ich habe die Sorge, dass wir in eine lange Phase von Konflikten eintreten, das wäre schlimm. Bezüglich KI: Ich bin immer noch optimistisch. Im Moment ist alles kompliziert, und es wird böser als noch vor einem Jahr, weil es um so viel Geld geht. Meine Hoffnung ist, dass mehr Common Sense entsteht. KI ist wirklich eine große Sache, und ich hoffe, es gibt bald ein größeres Verständnis dafür, was wirklich passiert. Für uns: Ich hoffe, ich kann weiter an interessanten Projekten arbeiten. Das ist das Ziel: dass Dinge halbwegs stabil bleiben. Ich bin sehr dankbar, dass wir Erfolg mit dem haben, was wir machen, das ist nicht selbstverständlich. Aber wer weiß: Vielleicht müssen wir doch noch anfangen zu malen.

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