Wie der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunst bewegt, erforscht Thomas Girst in seiner Kolumne. Nun hat er mit den berühmtesten Kunstschaffenden, Museumsdirektorinnen und Kuratoren der Gegenwart gesprochen und sie gefragt, ob und warum Marcel Duchamp heute noch relevant sei. Ihre Antworten sind ein „Who-is-Who“ der internationalen Kunstwelt: ein Alphabet von Saâdane Afif über Naomi Beckwith, Cao Fei, Jeff Koons, Koyo Kouoh und Ai Weiwei bis zu Jessica Zhang
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28.02.2025
Vor hundert Jahren, im Jahr 1925, war Marcel Duchamp (1887–1968) längst aus New York wieder nach Paris zurückgekehrt. Die Zeit seiner Readymades war so gut wie vorüber, der Malerei hatte er bereits abgeschworen. Zum Leidwesen Vieler widmete er sich in den nächsten zehn Jahren hauptsächlich dem Schachspiel und nahm an olympischen Turnieren sowie an internationalen Meisterschaften teil. Aber natürlich wäre er nicht Duchamp, wenn er nicht auch weiterhin die Kunst und unsere Wahrnehmung von ihr revolutioniert hätte. Vor genau einem Jahrhundert entstand seine „Rotary Demisphere (Precision Optics)“, ein motorisiertes optisches Gerät, das die Kinetische Kunst um drei Jahrzehnte vorwegnahm. Ein Vorgänger des Apparats hatte Man Ray fast umgebracht, als sich die Glasplatten der elektrischen Drehvorrichtung bei großer Geschwindigkeit lösten und an den Zimmerwänden zerschellten. Was den Fotografen nicht davon abhielt, zusammen mit seinem Freund weiterhin zu experimentieren, etwa mit Stereoskopie. 1925 begannen sie mit der Arbeit an ihrem siebenminütigen Kurzfilm „Anémic Cinéma“. Es war das erste Werk von Duchamp, das von einem Museum erworben wurde.
2025 ist also genau das richtige Jahr, Duchamps Bedeutung in der zeitgenössischen Kunst einmal direkt anzufragen. „Ist Marcel Duchamp noch wichtig und warum?“ war eine Frage, über die viele Kunstschaffende auf der ganzen Welt, aber auch Kuratoren und Museumsdirektorinnen in den letzten Wochen nachdachten. Es war übrigens das New Yorker Museum of Modern Art, das 1938 „Anémic Cinéma“ kaufte. Und es ist das MoMA, das gemeinsam mit dem Centre Pompidou und dem Philadelphia Museum of Art 2026 eine große Duchamp-Retrospektive ausrichtet. Doch ausgerechnet die Kuratorinnen des MoMA lehnten höflich ab, sich an der Umfrage über Duchamps Bedeutung zu beteiligen. (Das MoMA hüllt sich hinsichtlich Duchamp auch noch anderweitig in Schweigen. Seit dreißig Jahren weigert sich das Museum, jedwedes Detail über einen Diebstahl aus dem Jahr 1995 preiszugeben, als ein junger Mann Duchamps Readymade „Fahrrad-Rad“ aus der Galerie im zweiten Stock stahl und das MoMA durch den Haupteingang verließ, ohne dabei von irgendjemand aufgehalten zu werden. Der Dieb gab das Readymade später wieder zurück –indem er es über die Mauer des Skulpturengartens warf. Wird das Schweigen des MoMA überbewertet, so wie es Joseph Beuys in einer Performance 1964 in Bezug auf Marcel Duchamps vermeintliches Schweigen behauptete?) Glücklicherweise ist das MoMA im Jahr 2025 kein alleiniger Gralshüter der Bedeutungshoheit mehr, stattdessen war die ganze Welt so freundlich, auf die Frage zu antworten:
„Saâdane Afif an ChatGPT: ‚Ich hätte gerne 2-3 Sätze von dir – nur wenn du antworten willst! ‚Ist Marcel Duchamp noch wichtig und warum?‘ Könnten Sie den Namen ‚Donald Duck‘ und die Wörter ‚Fountain, 1917‘, ‚Agonie‘, ‚Kapitalismus‘, ‚Apfelkuchen‘, ‚Osiris‘ und ‚Hintern‘ in Ihrer Antwort hinzufügen?‘ ChatGPT an Saâdane Afif: ‚Marcel Duchamp ist immer noch wichtig, weil Fountain, 1917 die Agonie der künstlerischen Tradition auf dem Hintern herumwirbelt und die Art und Weise in Frage stellt, wie der Kapitalismus Kreativität endlos neu verpackt – ähnlich wie einen Apfelkuchen, der mit vorproduziertem Lächeln serviert wird. Wie Osiris weigern sich seine Ideen, begraben zu bleiben, und werden in Debatten über Autorenschaft, Wert und das Wesen der Kunst stets neu zum Leben erweckt. Selbst Donald Duck, der durch den Sumpf der Massenkultur watschelt, erinnert daran, dass Duchamps Respektlosigkeit noch immer in der Absurdität unserer Welt widerhallt.‘“
Saâdane Afif, Künstler
„Ich stelle durch meine jahrelange Arbeit mit Künstlerinnen fest, wie sehr Duchamp eine aktive Referenz bleibt – manchmal direkt, oft als eine Reihe von Fragen, die nicht verschwinden. Duchamp ist immer noch wichtig, weil er die Vorstellung erschüttert hat, dass es in der Kunst um das Machen geht, sondern vielmehr um das Denken, um das Stören, das Readymade, die Autorenschaft, die Rolle des Künstlers – seine Provokationen sind nicht nur historische Momente, sondern unvollendete Gespräche. Jeder Künstler, der Form und Funktion in Frage stellt, setzt sich in gewisser Weise immer noch mit ihm auseinander, nicht aus Nostalgie, sondern weil die Fragen, die er aufgeworfen hat, ungelöst bleiben.“
Sam Bardaouil, Direktor, Hamburger Bahnhof, Berlin
„Duchamp mag über ein Jahrhundert nach seinen revolutionären Schritten in der Kunstwelt nicht mehr in aller Munde sein, aber er ist in ihrem Unterbewusstsein präsent. Wann immer eine Künstlerin eine Geste als Kunst bezeichnet, oder tradiertes Material ablehnt, oder verkündet, dass ihr Ritual, ihr Event, ihre Zusammenkunft oder was auch immer sie als Künstlerin tut, Kunst sei, dann zitiert sie auch Duchamp. Er machte die Kunstschaffenden und nicht Objekte zum Schlüsselelement der Kunst.“
Naomi Beckwith, Stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin des Solomon R. Guggenheim Museums, New York, Künstlerische Leiterin der documenta 16, 2027
„Marcel Duchamp hat seine subversive Kraft, unsere Sicht auf die Welt zu verändern, nicht verloren. Seine Radikalität hat sich weder abgenutzt noch abgeschwächt. Während meiner Jahre im Museum of Modern Art in New York habe ich mich angesichts der Bestände und der Sammlung des Museums und seiner Programmgestaltung oft gefragt, ob ich eher ins Lager von Picasso oder Duchamp hin tendiere. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es sich um zwei Extreme handelt, wobei ich zumindest in den ersten 20 Jahren meiner Arbeit als Kurator ganz klar auf Duchamps Seite stand. Ein wichtiger Moment in meiner kuratorischen Ausbildung war die sehr enge Zusammenarbeit mit Katharina Sieverding und Dan Graham Anfang und Mitte der 1990er Jahre. Es ist wirklich prägend, wie stark sein Einfluss ist, obwohl seine Ausstellungen im Vergleich zu anderen Künstlern so unglaublich selten sind, was für die unglaublich bahnbrechende und weltverändernde Wirkung seiner Werke spricht, bei denen oft der bloße Gedanke genauso realitätsverändernd sein kann wie das Objekt selbst.“
Klaus Biesenbach, Direktor, Neue Nationalgalerie, Berlin
„Ich habe eben dies – in einer Readymade-Haltung – ChatGPT gefragt, denke aber, dass die Antwort der KI eigentlich nicht mehr trägt: Duchamp spielt heute nicht etwa eine Rolle, ‚weil seine revolutionären Ideen traditionelle Kunstbegriffe in Frage gestellt‘ hätten oder wegen seines ‚Fokus auf Ideen, Provokation und das Überschreiten von Grenzen‘ oder weil … . Meiner Meinung nach liegt seine Relevanz heute woanders: in seiner individuellen Haltung, die er selbst als ‚an-artistic‘ (Marcel) und sogar als ‚au-cul-istic‘ (Rrose) bezeichnet hat.“
Lars Blunck, Kunsthistoriker
„Ich habe nie viel von dem geglaubt, was Joseph Beuys zu sagen hatte, wovon es ohnehin zu viel gab, aber dennoch war und ist sein Urteil ‚Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet‘, welches er 1964 über das Erbe von Marcel Duchamp fiel, ein durchaus kluges! Was Beuys zu sagen hatte, darüber musste ich nachdenken, als ich im Frühjahr 1977 als Kunstgeschichtsstudent die aufwändige erste französische Retrospektive von Duchamp im neu eröffneten Centre Pompidou sah. Ich konnte kaum eine der vielen Datumsangaben auf den Ausstellungsetiketten verstehen. Wann wurde dieses oder jenes Werk geschaffen, neu geschaffen, überarbeitet, neu herausgegeben? Aber natürlich war es ganz und gar Duchamp – in der Tat stellt sich für mich immer noch die Frage, was genau die Kunst von Duchamp ist, oder besser gesagt, was ist dann die Geschichte der Kunst von Duchamp?“
Chris Dercon, Direktor, Fondation Cartier, Paris
„In einer Welt, die von KI Algorithmen beherrscht wird, hat Duchamp uns die Fragen ‚Was ist Kunst?‘ und ‚Wer hat das Recht, Kunst zu definieren?‘ hinterlassen, die beide nach wie vor hochrelevant sind.“
Cao Fei, Künstlerin