Per Du mit Duchamp

Ist Marcel Duchamp noch wichtig?

Wie der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunst bewegt, erforscht Thomas Girst in seiner Kolumne. Nun hat er mit den berühmtesten Kunstschaffenden, Museumsdirektorinnen und Kuratoren der Gegenwart gesprochen und sie gefragt, ob und warum Marcel Duchamp heute noch relevant sei. Ihre Antworten sind ein „Who-is-Who“ der internationalen Kunstwelt: ein Alphabet von Saâdane Afif über Naomi Beckwith, Cao Fei, Jeff Koons, Koyo Kouoh und Ai Weiwei bis zu Jessica Zhang

Von Thomas Girst
28.02.2025

 

„Duchamps Einfluss wirkt in der zeitgenössischen Kunst fort, insbesondere in unserem technologischen Zeitalter, das von digitaler Kunst und sozialen Medien geprägt ist. Seine Ideen über Autorenschaft und die Demokratisierung des Kunstschaffens finden in dieser digitalen Landschaft neue Relevanz. Die digitale Demokratisierung der Kunst steht im Einklang mit dekolonialer Praxis und ermöglicht Künstlerinnen mit unterschiedlichem Hintergrund, Visibilität zu erlangen und finanzielle Möglichkeiten zu erhalten. Diese Realität zeigt indes auch, wie die Kluft zwischen Nationen mit digitalem Zugang und jenen mit weniger Zugang in Bezug auf Kunstproduktion und -verbreitung immer größer wird.“

Azu Nwagbogu, Kurator, Gründer und Direktor der African Artists‘ Foundation und des Lagos Photography Festival

Azu Nwagbogu. © Davy Denke Rytter & Denke_2024
Azu Nwagbogu. © Davy Denke Rytter & Denke_2024

 

„Marcel Duchamp bleibt ein Werkzeugkasten für das 21. Jahrhundert. Er ist eine Inspiration für mein weltweit laufendes Projekt ‚Do it‘. Von Duchamp stammen Anleitungen für Kunstwerke – zum einen das 1919 entstandene ‚Unhappy Readymade‘, in dem der Künstler aus Argentinien Anweisungen für ein Werk auf dem Balkon seiner Schwester in Frankreich schickt, zum anderen seine Notizen, in denen unter dem Titel ‚Speculations‘ Anleitungen zu finden sind, wie … ‘Ein Gemälde oder eine Skulptur machen, wie man einen Film abspult‘ oder ‚Ein Wörterbuch kaufen und die Wörter durchstreichen, die durchgestrichen werden sollen.‘ Marcel Duchamp hat das in einem Interview mit Jeanne Siegel einmal so formuliert: ‚Diese Notizen hatten alle eines gemeinsam: Sie waren im Infinitiv geschrieben. Im Infinitiv, also um Dinge endlich zu tun, um genau das zu tun, was ich nie getan habe.‘“

Hans Ulrich Obrist, Direktor und Künstlerischer Leiter, Serpentine Galleries, London

Hans Ulrich Obrist. © Rosset_ 2
Hans Ulrich Obrist. © Rosset_ 2

 

„In unserer lauten und gewaltvollen Gegenwart ist ein indifferenter und freier Geist wie der von Marcel Duchamp unverzichtbar. Duchamps Hingabe zu Ambivalenzen und Komplexitäten gibt Orientierung. Seine subtilen Widerständigkeiten im Werk wie im Denken sind ungebrochen.“ 

Susanne Pfeffer, Direktorin, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main

 

„Duchamps Provokationen bleiben ein Leuchtturm für Künstlerinnen, Kuratoren und Kritiker. Er stellt die Grenzen der Kunst und ihre Rolle in der zeitgenössischen Gesellschaft immer wieder in Frage. Sein Einfluss ist so präsent und inspirierend wie jeher und bietet eine Quelle des Mutes für die Herausforderungen der heutigen Zeit.“

Xue Tan, Chefkuratorin Haus der Kunst, München, Ko-Kuratorin 16. Shanghai Biennial 2025

 

„Nur wenige würden Duchamps grundlegenden Einfluss auf die Kunstgeschichte bestreiten, da er das Konzept für kommende Generationen in den Vordergrund des Schaffens stellte. Heute jedoch bleibt er eher durch seine kluge Präsenz in Erinnerung: seine eigenwillige Zweideutigkeit, seine gespielte Nonchalance und seine Beharrlichkeit, im Verborgenen zu arbeiten. Er hinterlässt uns ein Modell des Künstlers als Chiffre, der tief denkt und nur manchmal spricht.“

Phil Tinari, Direktor und CEO, UCCA Zentrum für zeitgenössische Kunst, Peking

 

„Marcel Duchamp ist für diejenigen wichtig, die von ihm oder seinen Beiträgen zur Kunst gehört haben. Als Kuratorin und Kunsthistorikerin in Indien frage ich mich, ob die Studentinnen/Kunstliebhaber der nächsten Generation von ihm wissen werden, es sei denn, man eröffnet ihnen diese Welten in der Ausbildung.“

Shaleen Wadhwana, unabhängige Kuratorin, Indien und Südasien, Beraterin der Kadist Art Organization

 

„Ich glaube, dass Marcel Duchamps Einfluss tiefgreifend bleibt – nicht nur heute, sondern bis weit in die Zukunft hinein. Sein Einfluss liegt darin, dass er die Kunst vom rein Visuellen befreite und sie in einen Bereich des Intellekts, des Konzepts und der poetischen Deutung erhob, und wie er eine neue Sprache und individuelle Perspektiven bei der Neuinterpretation der Realität verwendete. Durch die Individualisierung der Kunst als essenzielles Attribut menschlicher Kreativität kann ihr humanitärer Kern niemals schwinden. Duchamps Herangehensweise sowohl an die Kunst als auch an das Leben macht ihn überzeugender denn je. In einer Ära der künstlichen Intelligenz steht er in krassem Gegensatz dazu. Seine ästhetische Vision wird fortbestehen.“

Ai Weiwei, Künstler

 

„Es ist wichtiger denn je, über die Bedeutung und die Implikationen des Readymade nachzudenken. Filter in Fotobearbeitung, Vorlagen in privater und unternehmerischer Kommunikation, Autovervollständigung und Autokorrektur, Plugins in Media Creation Software, Voreinstellungen zu Verstand und Meinung, die uns als Feeds zugespielt werden, KI-generierter Deep Research – das alles sind algorithmische Readymades des heutigen Alltags.“

Samson Young, Künstler

 

„Marcel Duchamp geht über die Anthropozentrik hinaus. In einer globalen Welt, die von rasanter technologischen Entwicklung und sozialen Veränderungen geprägt ist, erinnert uns seine unnachgiebige Betonung menschlicher Vorstellungskraft in Form des Readymade daran, dass, solange wir als menschliche Wesen unsere Fähigkeit, Fragen zu stellen, zu denken und die Grenzen von Ideen zu verschieben, nicht verlieren, KI den Menschen niemals ersetzen wird, so wie das Teleskop nicht den Astronom ersetzen kann.“

Jessica Zhang, Direktorin, Today Art Museum, Beijing

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