In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn persönlich besonders bewegen. Folge 1: der Gesellschaftsmaler John Singer Sargent und sein Geheimnis
ShareKunst anzuschauen ist immer ein bisschen, wie von Geistern heimgesucht zu werden. Man tritt einer Arbeit gegenüber und befindet sich plötzlich in der Gegenwart eines anderen Bewusstseins, das nicht mehr und zugleich doch noch da ist. Und wenn man bereit dazu ist, nimmt man nicht nur die bewussten, intendierten Botschaften dieses Wesens wahr, das da zu einem spricht, sondern auch seine unbewussten Botschaften: das, was es nicht zeigen wollte, wovor es Angst hatte, was es nicht sehen konnte. Und wie bei Menschen, denen man tatsächlich begegnet, treffen diese Botschaften auf korrespondierende Begehren, Ängste und blinde Flecken in einem selbst.
Wir können nicht die Stimmen aller Geister hören. Aber es gibt einige Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeiten mich häufig wie magisch anziehen und einen Strom von Gefühlen in mir auslösen, die ich nicht in Worte fassen kann. Die mich dazu bewegen, lange vor den Werken stehen zu bleiben, mir ihre kleinsten Details einprägen zu wollen. Die manchmal den Wunsch in mir auslösen, trotz aller musealer Verhaltensregeln, trotz Alarmanlagen eine Handfläche auf sie zu legen, um ihre Schwingungen besser spüren zu können. Einer dieser Künstlerinnen und Künstler ist John Singer Sargent. Wenn ich durch bestimmte Museen streife, etwa die Londoner Tate, habe ich den Eindruck, dass eine unsichtbare Hand mich immer wieder vor allem zu seinen Bildern führt.
Lange konnte ich nicht sagen, warum das der Fall war. Sargent entspricht eigentlich nicht dem Profil jener Malerei, für die mein Herz am verlässlichsten schlägt: Sein zurückhaltendes Verhältnis zur Moderne lässt seine Bilder oft historischer wirken, als sie sind. Die malerischen und intellektuellen Einflüsse der Avantgarden seiner Zeit ließ er in seinen Werken nur in homöopathischen Dosen zu. Sein Sujet waren die Aristokraten und Oligarchen der High Society des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Atlantiks, die gut angezogenen Damen und Herren der Belle Époque und des Gilded Age, einer Epoche des ökologischen Raubbaus und extremer gesellschaftlicher Ungleichheit. Trotzdem bindet mich etwas an seine Bilder und sorgt dafür, dass ich ihn gerne kennenlernen würde, auch wenn ich weiß, dass das nicht möglich ist.
Viele seiner Werke entziehen sich diesen Zuschreibungen, wenn man sie sich genauer anschaut, auch Sargent selbst tut das. Er behauptete einmal von sich, dass er „überall zu Hause“ sei, aber nirgends wirklich „hingehöre“. 1856 in Florenz geboren, zog er mit seinen aus Philadelphia stammenden und von einer kleinen Erbschaft lebenden Eltern mit den gesellschaftlichen Jahreszeiten durch Europa, lebte mal in Neapel und Rom, mal in Dresden, Karlsbad oder Venedig. Als er 18 war, zog seine Familie nach Paris, damit er an der École des Beaux-Arts bei Charles-Émile-Auguste Durand Kunst studieren konnte. Sargent, der mehrere Sprachen fließend sprach, sah sich selbst als Amerikaner, sollte Amerika aber erst mit 20 zum ersten Mal besuchen. Er verstand sich mit den Superreichen seiner Zeit ebenso gut wie mit den Bohemiens, war mit Henry James und James McNeill Whistler befreundet, europäisierte Amerikaner wie er, aber auch mit Monet und Rodin, der amerikanischen Kunstsammlerin Isabella Stewart Gardener oder dem britischen Kunsthändler Asher Wertheimer. Er sollte sein Leben lang allein bleiben und sich hinter der steifen Etikette eines konservativen Junggesellen verstecken, die unter anderem jede Frage nach seiner Sexualität verbot. Selbst beim Malen legte er nie sein perfektes Jackett und seine Krawatte ab oder verzichtet auf seine teuren Zigarren. Doch vieles spricht dafür, dass seine Ateliers Begegnungsorte für Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, mit verschiedenen Ethnien, Religionen, sozialen Überzeugungen und sexuellen Orientierungen waren.
Es war Carolus-Durand, sein Pariser Lehrer, der Sargent den Auftrag zu einem seiner bekanntesten Porträts vermittelte. Ich kann mich noch genau an den Moment der Erschütterung erinnern, als ich „Dr. Pozzi at Home“ (1881) zum ersten Mal sah. Es war im April 2015 in London, in der Ausstellung „Sargent. Portraits of Artists and Friends“ in der National Portrait Gallery. Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, konnte kaum schlafen und lief jeden Tag mehrere Kilometer die Themse entlang, um mich zu beruhigen, und ich ging obsessiv in Ausstellungen, weil sie mich besser als alles andere abzulenken schienen. Als ich das zwei Meter große Porträt dieses erstaunlich schönen Mannes in seinem karmin-, rubin-, scharlach- und korallenrot changierenden Hausmantel sah, nur nachlässig durch eine Kordel zusammengebunden, hatte ich den Eindruck, mich schockzuverlieben.
Ich sollte erst einige Jahre später lernen, dass Dr. Pozzi einer der berühmtesten und fortschrittlichsten Ärzte seiner Zeit war und dass Sargent und er sich so gut anfreundeten, dass der Maler dem Porträtierten sagen konnte, dass es bei dem Bild nicht um ihn, sondern um seinen Mantel gehe, und dieser das lächelnd hinnahm. Doch in diesem Moment spielte das keine Rolle. Die Brillanz, mit der dieses Bild mit offensichtlichen Einflüssen von Velázquez, von Dyck und Hals spielt, drückt so viel mehr malerische Souveränität aus, als sie ein 25-jähriger Maler haben konnte. Der traurig-träumerische Gesichtsausdruck des Mannes, das feine Lächeln um seine Augen, das Gefühl, er genösse es, angeschaut zu werden, seine filigranen, kräftigen Hände, der Einblick in sein privates Leben – das Bild zeigt ihn buchstäblich kurz vor dem Zubettgehen –, all das verleiht dem Porträt eine unergründliche Ambivalenz. Das Gemälde ist gemaltes Verlangen, nicht unbedingt ein sexuelles, sondern eher ein sinnliches Verlangen, dem eine Trauer unterliegt. Es ist ein Bild über ein Begehren, das nicht erfüllt werden kann.