In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn persönlich besonders bewegen. Folge 1: der Gesellschaftsmaler John Singer Sargent und sein Geheimnis
ShareSargents Entscheidung, die Porträtmalerei zu seiner Hauptbeschäftigung zu machen, hatte viel mit der öffentlichen Reaktion auf Bilder wie „Dr. Pozzi at Home“ zu tun, aber auch damit, dass sie ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit schenkte und die Möglichkeit bot, die bescheidenen Finanzen seiner Familie aufzubessern. Sein protestantischer Arbeitseifer traf darin auf eine Leidenschaft für Glamour, Theatralik und Raffinement. Künstlerisch ließ er sich sanft von der akademischen Tradition, den Impressionisten und Symbolisten beeinflussen, vom Realismus und dem Ästhetizismus der Décadence, aber sein Leitbild schienen immer die klassischen Porträts alter Meister zu sein. Es gelang ihm, seine Porträtierten mit einer geradezu unverschämten Bravour, einer eigenen Mischung aus malerischer Genauigkeit und Nachlässigkeit auf die Leinwand zu bannen. Über vielen seiner Porträts liegt etwas Schimmerndes, darunter eine psychologische Tiefe, die sich nicht als psychologische Tiefe, sondern als nonchalante Beobachtungsgabe gab. Hinter ihrer unübertroffenen Sinnlichkeit, ihren flüchtigen Momenten der Schönheit, ihren prachtvollen Kostümen versteckte sich ein Geheimnis, das sich nur schwer bestimmen lässt.
Wenn etwas einen Skandal in der an Skandalen so reichen Belle Époque verursachte, dann war es nicht Sargents Verhalten, sondern seine Bilder. Eines davon, das heute zu den meistbesuchten Werken der Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York gehört, bewog den Maler gar, die Zelte in seiner Wahlheimat Paris abzubrechen und noch London zu ziehen. „Madame X“ (1884) hieß eigentlich Virginie Gautreau und war wie er eine Amerikanerin in Paris. Im Gegensatz zu ihm war sie für ihr extravagantes Auftreten bekannt und dafür, dass sie die sozialen Normen der Pariser Gesellschaft herausforderte, indem sie ein für ihre Zeit kaum akzeptables Maß an Haut zeigte. Sargent malte sie in einem für sie typischen Kleid: eine schwarze Haute-Coutûre-Robe mit Wespentaille und freizügigem Bustier und viel weiß gepuderter, an manchen Stellen lavendelbläulicher Haut. Ein raffiniertes, extrem modisches Symbolbild für die Décadence und die Neurasthenie der Epoche. Allerdings verkalkulierten sich sowohl das Modell als auch der Maler, als sie das Porträt 1884 im Pariser Salon ausstellten. Im Gegensatz zur übermalten Version, die heute in New York zu sehen ist, fiel der originalen „Madame Pierre Gautreau“ einer der beiden dünnen, diamantbesetzten Träger ihres Kleids von der rechten Schulter. Obwohl die Ausstellung selbstverständlich voller nackter Nymphen und mythologisierter Frauenakte hing, war das dem Publikum der Zeit zu viel Haut. Gautreau konnte sich wochenlang nicht in der Gesellschaft blicken lassen, und Sargent musste nach London ziehen.
Doch auch etwas anderes schien die Betrachtenden an diesem Bild herauszufordern: das Selbstbewusstsein der Porträtierten, das Gefühl, dass es sich bei ihr um eine Frau mit einem eigenen Begehren handelt – nicht um eine mythologisierte Figur, ein erotisches Objekt oder ein seiner emotionalen Komplexität beraubtes Mannequin, den üblichen Darstellungsmodi und Genderrollen der Zeit. Aus diesem Grund stechen viele von Sargents Frauenporträts auch heute noch hervor: Auf elegante, extravagante und manchmal atemberaubende Weise inszenieren sie an der Oberfläche die Insignien eines häufig obszönen Reichtums und einer schichtspezifischen sozialen Kontrolle. Doch von den porträtierten Frauen geht meist eine unausgesprochene, divaeske Macht aus, sie sind nicht die Objekte eines männlich-heterosexuellen Blicks. Stattdessen lassen die Bilder komplexere innere Leben aufscheinen – der Porträtierten und ihres Malers selbst. Sie bergen jenes Geheimnis, das Sargent nur zeigen konnte, indem er es andeutete. Ein Geheimnis, das sich, aufgedeckt, als zu explosiv erwiesen hätte.
Sargents Karriere sollte nach seinem Umzug nach London ungeahnte Höhen erreichen. Von den 1890er-Jahren an hatte er die Macht, Menschen nur, indem er sie malte, bekannt zu machen – eine Fähigkeit, die er sich mit hohen Preisen für seine Bilder entlohnen ließ. Eine Karikatur jener Zeit zeigt ihn, wie er aus dem Fenster seines Ateliers in Chelsea schaute, das er von seinem Freund Whistler übernommen hatte, und voller Erschrecken feststellt, dass sich dort eine lange Schlange modischer Damen gebildet hatte, die von ihm gemalt werden wollte. In einem gewissen Sinne war er der letzte große Gesellschaftsmaler, des Maler des neuen Geldes, jenes Zeitalters der plutokratischen Superreichen, die durch Kolonialismus, Industrialisierung und globalisierten Handel die Welt ausbeuteten. Für seine Klientinnen und Klienten entwarf er einen Porträtstil, der zwischen Bezügen zur englischen Romantik und einem modernisierten Rokoko changierte. Für fast alle seiner Kompositionen lassen sich kunsthistorische Vorbilder finden, bewusste und unbewusste Anleihen, die von Velázquez und van Dyck zu Gainsbourough, Reynolds und Lawrence reichen, von Ingres und Boucher zu Manet, von Donatello und Tiepolo zu Tizian.