In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn persönlich besonders bewegen. Folge 1: der Gesellschaftsmaler John Singer Sargent und sein Geheimnis
ShareDas Gemälde, das zwischen 1917 und 1921 entstand, zeigt Thomas McKeller. McKeller saß für Sargent in der letzten Dekade dessen Lebens Modell und war ihm 1916 im Bostoner Luxushotel Hotel Vendome aufgefallen war, wo er den Aufzug bediente. Sargent, einer der Celebrity-Hotelgäste, suchte nach Modellen für die mythologische Figuren der von ihm geplanten Wandgemälde. Der 26-jährige Mann, der aus North Carolina geflohen war, wo schwarze Männer wie er jede Woche verfolgt und gelyncht wurden, erwies sich bald als das Modell, mit dem Sargent am liebsten zusammenarbeitete. Sein flexibler, muskulöser Körper kehrt in unzähligen Studien wieder und stand überraschend vielen der klassischen Göttinnen und Götter in den Wandgemälden der Rotunde des Museum of Fine Arts Pate. McKeller ist dort überall sichtbar und zugleich auch nicht, wird gezeigt und zugleich verhüllt. Selbst die weiblichen Körper der Gemälde sind seinem nachgebildet, sie zeigen etwa die gleiche leichte Verformung der rechten Brustwarze des Modells. Nach allem, was über die beiden Männer bekannt ist, überschritt ihre Beziehung nie den durch und durch formellen Rahmen des Arrangements eines bedeutenden Malers und seinem Modell. Neben dem Maler Albert de Belleroche, mit dem sich Sargent als junger Mann ein Atelier teilte, oder Nicola d’Inverno, der fast 20 Jahre lang sein Assistent war und ihm auch Modell saß, war McKeller einer der Männer, mit denen der Künstler eine romantische Beziehung hätte eingehen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit tat er es nicht.
John Singer Sargent sollte auch dieses Bild nie der Öffentlichkeit zeigen, allerdings hing es bis zu seinem Tod 1925 in seinem Bostoner Atelier. Das Porträt ging mir nicht aus dem Kopf, weil es einen schwarzen Mann ohne die gängigen rassistischen Stereotypen der westlichen Malerei zeigte, die sich bis in die Gegenwart gehalten haben. Es ging mir nicht aus dem Kopf, weil darin kurz etwas aufscheint, das sich erst viele Jahrzehnte später in den Werken von Malerinnen und Malern wie Beauford Delaney oder Lynette Yiadom-Boakye vollständig entfalten sollte. Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf, weil es von so viel Offenheit geprägt ist wie in kein anderes von Sargents Werken. Es lebt von einem Gefühl, das weit über erotisches Begehren hinausgeht, einem Gefühl von Respekt, Zuneigung, Nähe, vielleicht sogar Liebe, einem Gefühl von Trauer um die Unmöglichkeit einer Beziehung eines alternden weißen Malers zu diesem jungen, schwarzen Hotelangestellten, von Trauer um die eigene verlorene Jugend und um das eigene Leben, dessen Ende sich schon am Horizont ankündigte. Es ist eines der schönsten und berührendsten Gemälde, die ich kenne.
Vielleicht wird man als queerer Mensch von den Geistern der Kunst manchmal auf besondere Weise berührt. Wie könnte man nicht sensibel für die vielen queeren Geister sein, die eine Geschichte heimsuchen, aus der sie ausradiert und ausgelöscht wurden. Sensibel für die aus heutiger Perspektive kaum mehr vorstellbare Grausamkeit, der jene Menschen ausgesetzt waren, die ihre queeren Leben lebten, die sich erpressbar machten und sich offener Verfolgung aussetzten. Und sensibel für die Geister jener, die ihre queeren Leben nie gelebt haben, sie aus Scham versteckten, vor anderen und vor sich selbst. Es steht zu vermuten, dass John Singer Sargent einer dieser queeren Menschen war und dass er sein feinfühliges, vielschichtiges Werk, das so viel mehr sagte als es zeigte, nur deswegen schaffen konnte. Wir werden es nie genau wissen. Sein Geist, der uns in seinen Bildern heimsucht, wird dieses Geheimnis nicht lüften, sondern uns nur Andeutungen schenken. Andeutungen und Kunst, die man nicht mehr vergisst.