In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn persönlich besonders bewegen. Folge 1: der Gesellschaftsmaler John Singer Sargent und sein Geheimnis
ShareDie häufig überschwängliche Rhetorik seiner Bilder feierte den Reichtum der oberen Zehntausend, zeigte aber auch die darunterliegende Ängste auf – die Angst davor, sich als nouveaux riches sozial nicht als legitim zu erweisen, die Angst vor der Flüchtigkeit des schnell gewonnenen Geldes, vor der Rache der Unterdrückten, vor der Zukunft. In gewissem Sinne beschwören seine Porträts Vergangenheitsfetische und schreiben sich so in eine als unsicher empfundene Gegenwart ein. Ungewollt zeigen sie, wie fragil Geschichte ist. Indem sich die neuen Oligarchen in Sargents Bildern symbolisch mit historischen, untergegangenen Oberschichten vergleichen ließen, inszenierten sie unfreiwillig auch ihren eigenen, zukünftigen Untergang. Und Sargent schien das zu wissen. Dass diese Bilder auch heute wieder Trophäen eines neuen, genauso ungleichen Gilded Age sind, verleiht ihnen nur noch eine schmerzlichere Tiefe. Sie sind Bilder aus einer Zeit, die so anders war als unsere und ihr doch in so vielem ähnelt.
1907 entschloss sich Sargent, die Porträtmalerei an den Nagel zu hängen. Einem Freund schrieb er, dass er sich wünsche, nie wieder ein Porträt malen zu müssen, insbesondere keines von Menschen aus der „Upper Class“. In der Hoffnung, den Umfang seiner Aufträge zu reduzieren, hatte er die Preise für seine Porträts in astronomische Höhen geschraubt, doch seine Klientel ließ sich nicht davon abschrecken. Sargent sollte einige Ausnahmen für Freundinnen und Freunde machen, aber im Wesentlichen begann er das zu machen, was er sein Leben lang am liebsten mochte: durch die Welt zu reisen und überall, wo er konnte, im Freien zu malen. Viele der Aquarelle und kleinen Ölbilder würde man nicht auf Anhieb als Sargent-Werke erkennen, sondern eher für feine, aber nicht besonders bedeutende Arbeiten eines Impressionisten halten. Darüber hinaus versuchte der Maler, sein Nachleben zu sichern, indem er Aufträge für klassizistische Wandgemälde in der Boston Public Library und im Boston Museum of Fine Arts annahm, doch auch von ihnen geht nicht die Magie vieler seiner Porträts aus. Ein weiterer Schritt zur Sicherung seines Nachruhms war die weitgehende Zerstörung seiner Tagebücher und Briefe, sodass bis auf ein paar Gerüchte und Anekdoten selbst heute kaum gesichertes Wissen über sein privates Leben existiert. Er hatte seine Leidenschaften sein ganzes Leben lang geheim gehalten, daran sollte sich auch nach seinem Tod nichts ändern.
Was uns bleibt, sind seine Bilder und ihre Geister. Und vielleicht kommt man Sargents Geheimnis nur mit ihrer Hilfe auf die Spur. Drei Monate, nachdem ich mich in der National Portrait Gallery in Dr. Pozzi schockverliebte, hielt ich mich in Boston auf und ging alle Stationen ab, die man abgehen muss, wenn man Sargent verehrt. Der Maler hatte sich hier kurz vor dem Ersten Weltkrieg niedergelassen und sollte bis zum Ende seines Lebens viel Zeit in der Stadt verbringen. Ich ging in die Public Library, um mir seine bekannten Wandgemälde anzuschauen, ein Prachtbau, typisch für Amerikas Gilded Age. Und ich besuchte das Isabella Stewart Gardener Museum, das exquisite, wunderschöne Haus, das von Sargents enger Freundin gegründet wurde und einige feine, weniger bekannte Werke von ihm zeigt. Darunter sind einige berührenden Aktstudien und Zeichnungen, die den männlichen Körper aus verschiedensten Perspektiven und in verschiedensten Positionen zeigen. Auch hier die Sargent’sche Bravour, die schnelle, dahingeworfene Genauigkeit, auch hier eine Spur des Geheimnisses, das so viele seiner Bilder ausmacht. Sargent sollte diese Zeichnungen nie ausstellen, aber viele von ihnen waren in seinen Ateliers in Boston und Chelsea zu sehen, für ihn waren es private Bilder. Die Studien zeichnen sich nicht durch einen erotischen oder gar pornografischen Blick aus. Dennoch schleicht sich etwas hinein, das in dieser Offenheit in anderen Sargent-Bildern nicht zu sehen ist. Ihre schnellen Striche, ihre impulsiven Gesten, das zarte Modellieren der Akte hat eine ganz und gar körperliche Energie. Manchmal umspielen Tücher und Stoffe diese fein ziselierten, sinnlichen Körper, als würde sie Sargent über diesen Umweg berühren wollen.
Mein Weg führte mich auch ins Boston Museum of Fine Arts, einem weiteren Prachtbau jenes untergegangenen Zeitalters, für dessen Begehren und Ängste Sargent zum malerischen Kronzeugen geworden war. Auch hier die souverän in Szene gesetzten klassischen und religionsgeschichtlichen Mythen der Wandgemälde, auch hier einige, wenn auch weniger bedeutende Gesellschaftsporträts. Erst als ich mich zu gehen anschickte, fiel mein Blick auf das große Aktporträt eines schwarzen Mannes, der mit weit geöffneten Beinen auf einem mit Kissen gepolsterten Tisch kniet, die Arme hinten abgestützt, den Kopf nach oben gerichtet, mit einem schwer zu entschlüsselnden Gesichtsausdruck zwischen Besonnenheit und Entrücktheit. Und ich konnte kaum glauben, dass auch dieses Bild von Sargent stammte. Wellen des Verstehens durchströmten meinen Körper, Wellen eines gewissen Glücks. Es war, als würde ich mich ein zweites Mal in eines seiner Bilder schockverlieben.